Francia-Recensio 2018/2
Mittelalter – Moyen Âge (500–1500)

Gegendarstellung zur Rezension von Arno Mentzel-Reuters zu Cordelia Hess, The Absent Jews. Kurt Forstreuter and the Historiography of Medieval Prussia, New York, Oxford (Berghahn) 2017, X–323 p., 2 maps, 1 tabl., ISBN 978-1-78533-492-4, GBP 85,00.

rezensiert von/compte rendu rédigé par
Cordelia Heß, Greifswald

Die Rezension von Arno Mentzel-Reuters zu meinem Buch »The Absent Jews. Kurt Forstreuter and the Historiography of Medieval Prussia« enthält einige sachliche Fehler, Auslassungen und Fehlinterpretationen, die ich an dieser Stelle richtigstellen möchte.

1. Bereits im ersten Satz des Buches mache ich deutlich, dass Forstreuter in keiner Weise ein herausragend politisch oder sonst wie aktiver Mensch war und dass auch die »Menge des Bösen«, an dem er während des Nationalsozialismus beteiligt war, sich völlig im Durchschnitt seiner Sozial- und Berufsgruppe bewegte. Das Interessante daran ist meines Erachtens, und darum geht es im Buch, dass erstens diese durchschnittliche Menge an Bösem bereits recht beachtlich war, da sie im Rahmen einer staatlich geplanten Strategie zur ethnischen Säuberung einer Region und deren wissenschaftlicher Absicherung geschah. Zweitens zeige ich, dass diese durchschnittliche Menge an Bösem sich direkt aus der Position als preußischer Archivbeamter ergab, dass also eine besondere Affinität ideologischer Art oder Enthusiasmus gar nicht nötig war, um etwa an der Erstellung von Deportationslisten mitzuarbeiten. Und drittens dient die Nachzeichnung der durchschnittlichen Menge an Bösem dem Nachweis, dass nach 1945 eine große Menge deutscher Wissenschaftler und Archivare nicht zur Rechenschaft gezogen und entsprechend in ihre Posten wieder eingesetzt wurden. Diese waren, und daran war Forstreuter definitiv beteiligt, dann sehr energisch dabei, die wissenschaftlichen Institutionen und Netzwerke, die vor und während des Krieges die deutsche Vormachtstellung im Osten legitimiert hatten, wieder aufleben zu lassen. Eine dieser Institutionen ist die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, deren 1. Vorsitzender Arno Mentzel-Reuters ist – vielleicht eine Information, die auch für die Leserinnen und Leser der Rezension interessant gewesen wäre. Dieser Organisation soll keinesfalls im Ganzen nationalsozialistische oder irgendeine andere Ideologie unterstellt werden, aber dass sie wenig Interesse daran hat, ihre Geschichte während der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus und die daraus resultierenden Kontinuitäten aufzuarbeiten, das zeigt Mentzel-Reuters Reaktion auf mein Buch sehr deutlich.

2. Mentzel-Reuters unterstellt mir erneut »Diffamierung« und »plumpe Geschichtsklitterung«, weil ich in einem Absatz Ernst Zipfel (nicht Zipel, wie bei Mentzel-Reuters) und die MGH nenne. Es geht dabei um die Benennung eines Forschungsdesiderats über das politische und wissenschaftliche Selbstverständnis von Archivaren in Anbetracht der immensen Bedeutung, die die Mittelalterforschung im Kaiserreich hatte, nicht um die Zuweisung einer ideologischen Richtung. In Ansätzen hat z. B. Astrid Eckert dieses Selbstverständnis untersucht, sie benennt ebenfalls Desiderata in der vergleichenden biographischen Forschung.

3. Mentzel-Reuters behauptet, Forstreuters Arbeit über die preußischen Juden sei in zwei »Miszellen 193738« entstanden, die als »zeitgebundener Irrtum« abzutun seien, und leitet u. a. daraus ab, Forstreuter habe eine Läuterung nach dem Krieg erlebt. In einem ganzen Kapitel lege ich dagegen dar, dass und wie diese Miszellen von Forstreuter in den späten 1970er Jahren noch einmal überarbeitet und dann in einer posthum herausgegebenen Anthologie veröffentlicht wurden. Hier wäre ein hervorragender Ort gewesen, um Bedauern wenn nicht über die eigene Beteiligung, so immerhin über die Shoah an sich schriftlich auszudrücken – das geschah jedoch nicht, ebenso wenig wie im gesamten schriftlichen Nachlass. Wenn Forstreuter bedauert hat oder geläutert war, hat er es jedenfalls vermieden, dies schriftlich festzuhalten, und alles andere ist mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden schwer zu fassen.

4. Die von Mentzel-Reuters als leuchtendes Beispiel erwähnte Biographie von Claus Leggewie über Hans Schneider/Schwerte wäre eigentlich ein sehr guter Aufschlag, um die biographische Methode der Annäherung an NS-Täter und Täterinnen zu diskutieren. Nur ist diese Debatte von der zeitgeschichtlichen Forschung bereits ausführlich geführt worden und ich gebe sie in Ansätzen auch in meinem Buch wieder: Die meisten der Forscherinnen und Forscher, die sich mit Ego-Dokumenten, autobiographischem Material, Tagebüchern etc. befassen und/oder die Biographierten persönlich kannten, neigen zu einer apologetischen oder jedenfalls empathischen Interpretation. Die große Sympathie, die Leggewie in seinen Interviews für den alten Mann entwickelt, hat ihm in Rezensionen u. a. den Vorwurf der »moralischen Laxheit« eingebracht. Diejenigen Forscherinnen und Forscher aber, die sich auf offizielle Dokumente, Dienstakten und/oder den institutionellen Rahmen fokussieren, kommen regelmäßig zu viel schärferen Urteilen über Verantwortung und Einbindung der Täter und Täterinnen – so wie Ludwig Jäger, der nicht nur Schneider/Schwertes wissenschaftliche Arbeit in seine Karriere als SS-Hauptsturmführer einbettet, sondern auch dessen Nachkriegskarriere und deren Unterstützer kritisiert. Wie ich bereits in der Einleitung transparent mache, wähle ich für Forstreuter einen Weg, der näher an der letztgenannten Methode liegt, unter anderem, da so gut wie keine Ego-Dokumente erhalten sind, was eine Identifikation mit dem Forschungsobjekt von vornherein ausschließt.

5. Wie Mentzel-Reuters richtig anmerkt, kann man Forstreuter vor und während des Krieges unter anderem seinen Kontakt zur Publikationsstelle Berlin-Dahlem (PuSte) als einer nationalsozialistischen Forschungseinrichtung vorwerfen (diese ist im Übrigen entgegen der Ansicht des Rezensenten u. a. von Ingo Haar und Michael Fahlbusch ausführlich untersucht worden). Hier verschweigt der Rezensent, dass Forstreuter diesen Kontakt selbst suchte und bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht auch hielt, um nicht etwa nur einen kleinen Aufsatz für die Zeitschrift »Jomsburg« zu schreiben, sondern um im Rahmen der PuSte und deren Förderung sein jahrelang geplantes und verfolgtes Forschungsprojekt über die deutsche Kulturpolitik in Preußisch Litauen zu veröffentlichen. Warum diese Arbeit sowohl in den ideologischen und geopolitischen Rahmen der PuSte als auch in Forstreuters sonstige Forschung passte, wird ebenfalls dargelegt – immerhin beklagte er nach dem Krieg den Verlust des Manuskripts und arbeitete immer wieder an ähnlichen Themen.

6. Eine deutliche moralische Wertung ist es, wenn Mentzel-Reuters Forstreuters Plünderungen in den Archiven der soeben vernichteten oder vertriebenen jüdischen Gemeinden und seine Mithilfe an der Erstellung von Deportationslisten als das Sicherstellen »verwaister Archivalien« darstellt. Faktisch lege ich in meinem Buch aber Wert darauf, bei der Rekonstruktion seines Archivraubs eben keine Intention, Leidenschaft o. ä. zu unterstellen, sondern konstatiere lediglich, in welchem Ausmaß er das »Ostprogramm« der Preußischen Archivverwaltung und die »Denkschrift über Leistungen des Archivschutzes für die Wissenschaft« implementierte und ausführte. Diese sind im Übrigen die relevanten Dokumente in diesem Zusammenhang, nicht die »Denkschrift zur Eindeutschung Posens und Westpreußens« von Theodor Schieder, die ebenfalls zur Genüge in der Forschung diskutiert worden ist – im Gegensatz zum »Ostprogramm«.

7. Max Hein, Forstreuters Vorgesetzter in Königsberg und bis 1945 Vorsitzender der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, lebte nicht bis 1940 (wie in der Rezension angegeben), sondern bis 1949 und spielte eine gewisse Rolle bei Forstreuters politischer Entlastung und Wiedereinstellung. Wie Mentzel-Reuters richtig benennt, zeigte auch dieser keine Ansätze zu Widerstand gegen die Archivpolitik im Osten, im Gegenteil.

8. Mentzel-Reuters suggeriert, meine Untersuchung der Textproduktion des Deutschen Ordens wolle dem Orden planvollen »Antisemitismus« unterstellen. Die Debatte um die historiographischen Texte sowie um Heinrich von Hesler – für dessen zweifelhaften Status als Deutschordensliteratur ich übrigens genau den Aufsatz von Mentzel-Reuters zitiere, den er auch anführt, allerdings gegen mich – führe ich gerade, um die Abwesenheit von offen antijüdischen Schriften im Deutschen Orden nachzuweisen. Diese Abwesenheit ist im Rahmen der spätmittelalterlichen laiendidaktischen Literatur sowie insgesamt der Geschichte christlich-jüdischer Relationen überraschend und bestätigt meine These, dass der angebliche Wille, Juden aus dem Deutschordensland aus religiösen Gründen fernzuhalten, eine viel spätere Unterstellung ist, die sich bis heute gehalten hat. »Was belegen diese Florilegien eigentlich anderes, als dass die Chroniken des Deutschen Ordens keine Ressentiments gegen Juden zeigen, eigentlich nicht einmal Interesse?« fragt Mentzel-Reuters sarkastisch, und da kann ich nur antworten: Genau das belegen sie, und das zeige ich auch in meinem Buch.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Cordelia Heß, Rezension von/compte rendu de: Gegendarstellung zur Rezension von Arno Mentzel-Reuters zu Cordelia Hess, The Absent Jews. Kurt Forstreuter and the Historiography of Medieval Prussia, New York, Oxford (Berghahn) 2017, X–323 p., 2 maps, 1 tabl., ISBN 978-1-78533-492-4, GBP 85,00., in: Francia-Recensio 2018/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2018.2.51887