Als Michael Uhl ihr 1994 das erste Mal begegnet, ist sie schon lange tot. Im September 1942 hatte man sie aus dem Transitlager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich sofort umgebracht. In einem Archiv zum spanischen Bürgerkrieg in Salamanca war er auf ihren Namen gestoßen: Betty Rosenfeld. Sie hatte sich 1937 als Krankenschwester auf der Seite der Republikaner engagiert und stammte wie er aus Stuttgart. Dort stolperte Michael Uhl zwanzig Jahren später wieder über ihren Namen. Diesmal ist er auf einen kleinen quadratischen Pflasterstein eingraviert und erinnert in der Stuttgarter Militärstraße vor der Hausnummer 131 an ihr Schicksal. Michael Uhl deutete diese dem Zufall geschuldete Wiederbegegnung als Zeichen. Er ließ sich beurlauben und beschäftigte sich von da an ausschließlich und obsessiv mit ihrem Lebensschicksal und dem ihrer Familie. Das Ergebnis ist ein rund 700 Seiten umfassendes ebenso originelles wie ungewöhnliches historisches Zeugnis.

Um das Leben seiner Protagonistin Betty Rosenfeld zu rekonstruieren, breitet Michael Uhl eine Fülle von Informationen aus, die er zu einem »Bedeutungsgewebe« verknüpft. Seine Vorgehensweise erinnert an das Prinzip der »dichten Beschreibung« wie sie der Ethnologe Clifford Geertz für die Erforschung und Analyse von fremden Kulturen entwickelt hat. Michael Uhl geht es darum, das unbekannte Terrain der Vergangenheit, die Geschichte von Betty Rosenfeld und ihrer Familie, in seiner ganzen Tiefe auszuloten. Zu diesem Zweck bettet er die individuelle Geschichte umfassend in den historischen Kontext ein. Er verbindet ihren Alltag mit den politischen, sozialen und mentalen Zuständen der Zeit. Dafür nutzt er sowohl historische Quellen als auch zahlreiche Zeitzeugeninterviews. Kernstück seiner Biografie ist der ausführliche Briefwechsel der weiblichen Familienmitglieder, dessen überraschender Fund bei den Nichten von Betty Rosenfeld in den USA einen absoluten Glücksfall darstellt.

Um ein präzises Bild der Erfahrungswelt seiner Protagonistin zu bekommen und ihr Leben möglichst detailgenau und anschaulich rekonstruieren zu können, bereiste Michael Uhl die verschiedenen Schauplätze ihres ereignisreichen Lebens. Mithilfe der zahlreichen Briefe versetzt er sich gedanklich in die Gefühls- und Gedankenwelt seiner Protagonistin und der anderen Familienmitglieder, die er dann als mögliche Realität nach dem Motto: »So könnte es gewesen sein« zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig liefert er ein atmosphärisches Stimmungsbild der beschriebenen Zeitläufte und macht die prägende Macht und den Einfluss historischer Ereignisse auf das Leben der Einzelnen nachvollziehbar.

In insgesamt zwölf Kapiteln wird ein Bogen geschlagen von der selbstverständlichen Integration der Familie Rosenfeld, ihrer Herkunft, Verankerung und Identität als deutsche Juden der bürgerlichen Mittelschicht in Deutschland hin zu ihrem kontinuierlichen Ausschluss und ihrer brutalen Vernichtung.

Die Familie hatte sich um die Jahrhundertwende in Stuttgart niedergelassen. Das vom Vater Benjamin geführte Unternehmen lief nach anfänglichen Startschwierigkeiten gut, und die Familie führte ein materiell unbeschwertes Leben. Das Judentum wurde gepflegt und die religiösen Gebote eingehalten; in die Synagoge ging man nur an hohen jüdischen Feiertagen. Alle drei Töchter erhielten eine gute Ausbildung. Betty wurde Krankenschwester.

Die 20er-Jahre bilden eine Zeit des Umbruchs, der politischen Mobilisierung und ideologischen Auseinandersetzungen. Emanzipations- und Reformbewegungen propagierten neue Lebensformen. Als intellektuell wacher Mensch war Betty Rosenfeld für die Neuerungen sehr empfänglich. Mit ihren Schwestern engagierte sie sich im deutsch-jüdischen Wanderbund, den »Kameraden«. Bereits früh begann sie, sich für Politik zu interessieren. Im Kontakt mit Gleichgesinnten schärfte sie ihren politischen Verstand und wandte sich nach und nach dem Kommunismus zu. Die ideologische Konfrontation wurde allerdings immer brutaler, die KPD und ihre Anhänger systematisch verfolgt. Hinzu kommt, dass die Nationalsozialisten bereits unmittelbar nach der Machtübernahm mit der Umsetzung ihres ideologischen Programms begannen, gerade auch mit den antijüdischen Maßnahmen. Wie andere junge, engagierte Juden auch, sah Betty Rosenfeld im Aufbau eines sozialistischen Staates in Palästina die einzige Möglichkeit, ihre Ideen einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Doch wie vielen anderen blieb auch ihr die Ernüchterung über die Realität in Palästina nicht erspart. Mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Sommer 1936 schien ein wirksameres Engagement möglich. Betty meldete sich als Krankenschwester, um auf der Seite der Republik zu kämpfen. Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter traf sie im März 1937 in Valencia ein.

Dass Michael Uhl dem spanischen Bürgerkrieg eine Dissertation gewidmet hat, merkt man diesem Kapitel der Biografie deutlich an. Hier kennt er sich zweifelsohne sehr gut aus, und es gelingt ihm auch hier ein komplexes Bild der Schauplätze, Akteure und Entwicklungen zu liefern. Was Betty angeht, so muss er häufig auf seine eigene Vorstellungskraft zurückgreifen, da die Quellenlage nicht sehr viel mehr hergibt. Eine Passage aus einem Brief von Betty an ihre Schwester Ilse lässt aufhorchen. Darin schreibt sie abfällig über die Angeklagten der Moskauer-Prozesse und schließt sich ohne zu zögern der offiziellen Parteiversion an. Ihre unkritische Übernahme überrascht und erschreckt zugleich, offenbart sie doch die Effizienz der ideologischen Gehirnwäsche auch bei ansonsten klugen und sensiblen Menschen. Den denunziatorischen Geist der Zeit spiegelt der Kommentar eines Genossen, Mitarbeiter der Militärpolizei der Internationalen Brigaden, der ihre Post zensiert. Sie hatte es gewagt, einem Kind ein Geburtstagsgeschenk in Form von geflochtenen Schuhen zu schicken. Das wird so kommentiert: »Die B. R. ist intellektuell sehr entwickelt. Wenn es sich auch bei diesen Sendungen lediglich um kleinbürgerliche Extravaganzen handeln sollte, ist ihr Postverkehr immerhin zu beobachten«.

Wie viele Spanienkämpfer strandete auch Betty 1938 in Frankreich. In Paris, wo sie zunächst beim »Internationalen Hilfskomitee für das spanische Volk« arbeitete, lernte sie Sally Wittelson kennen und lieben. Beide wurden Mitte 1939 verhaftet; er kam im Juni 39 ins Lager Gurs in den Pyrenäen, sie wurde in eine Flüchtlingsunterkunft im unweit gelegenen Oloron-Sainte-Marie (beide Pyrénées Atlantiques) gebracht. In der Folge massiver Propaganda rechtsgerichteter Medien waren die Gesetze zur Kontrolle von »unerwünschten« Ausländern bereits 1938 verschärft worden. Betroffen waren vor allem diejenigen Ausländer, die sich politisch betätigt hatten, Kommunisten und ehemalige Interbrigadisten. Der Wind hatte sich nach dem Ende der Volksfrontregierung gedreht, durch populistische Parolen sicherten die Politiker sich Wählerstimmen. Die Einrichtung von Internierungslagern war die konsequente Fortsetzung dieser Politik. Im Herbst 1939 kam Betty mit einigen Genossinnen in das Fraueninternierungslager Rieucros bei Mende (Lozère). Dort wurden ab Dezember 1939 auch Französinnen interniert.

Nach und nach zog sich die Schlinge für die Verfolgten immer enger zu. Im Waffenstillstandsabkommen vom Juni 1940 war die Möglichkeit der Auslieferung von in Frankreich internierten Deutschen an die Nazis festgelegt. Das von Vichy erlassene Judenstatut vom 3. Oktober 1940 sieht die Internierung aller ausländischen Juden sowie Ausgrenzungen für französische Juden vor. Auf Anweisung der Behörden waren sie bereits namentlich erfasst worden, was ihre spätere Verhaftung und Deportation »erleichtern« würde. Die Briefe aus dieser Zeit, die Michael Uhl ausführlich zitiert, geben Aufschluss über die verzweifelten und letztlich vergeblichen Versuche Bettys und ihrer Familie, dem Lager und Europa zu entkommen. Der Schwester Ilse gelang es als Einziger aus der Familie, mit einem offiziellen Einreisevisum in die USA zu gelangen. Der Vater Benjamin war bereits 1937 verstorben. Schwester Lotte kam in Riga um, ihre Mutter Therese und ihre Tante Charlotte wurden in Treblinka umgebracht.

Betty Rosenfeld wurde am 7. September 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert. An diesem Tag sah sie nach drei Jahren erstmals ihren Geliebten, Sally Wittelson, wieder, denn auch er wurde – wie Michael Uhl minutiös rekonstruiert hat – an diesem Tag deportiert. Von diesem traurigen Wiedersehen zeugen zwei Karteikarten aus dem Lager Drancy. Sie gehören zu den bewegendsten Dokumenten in diesem beeindruckenden Buch.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Mechthild Gilzmer, Rezension von/compte rendu de: Michael Uhl, Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne: Biographie, Stuttgart (Schmetterling Verlag) 2022, 672 S., Abb., Karten, ISBN 978-3-89657-036-9, EUR 39,80., in: Francia-Recensio 2023/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.100002