Roger Chartiers essayistische Sammlung geht auf seine Vorlesungen am Collège de France sowie auf Seminare an der Universität von Pennsylvania zurück und greift damit zentrale Ansätze und Themen seiner früheren Werke auf; die Sammlung trifft dabei aber auf aktuelle Fragestellungen: Denn frühneuzeitliche Übersetzungspraktiken finden in den Geistes- und Sozialwissenschaften gegenwärtig ein verstärktes Interesse.
Der Schwerpunkt von Chartiers Studie liegt auf dem 16. und 17. Jahrhundert, wobei die Thematik auch für die Gegenwart reflektiert wird. Bereits im Titel wird die enge Interdependenz zwischen Verlagswesen und Übersetzung in der Frühen Neuzeit aufgezeigt, die sowohl auf der textuellen Ebene als auch in größeren globalen Zusammenhängen des frühneuzeitlichen Publikationswesens greifbar ist. Das einleitende Kapitel »Dire vrai: rhétorique, fable, histoire« geht über die eigentliche Thematik des Buches hinaus und fragt in Auseinandersetzung mit Michel Foucault, Michel de Certeau, Carlo Ginzburg u. a. nach den erkenntnistheoretischen Werkzeugen gegen historische Fälschungen, die ihrerseits von literarischen Erfindungen abzugrenzen sind. Die Beschäftigung damit wird aus der Dringlichkeit unserer eigenen Gegenwart begründet, in der sich »fake news«, »les falsification du passé et les croyances dans les théories les plus absurdes« (S. 17) immer weiter ausbreiten. Es ist Aufgabe der Geschichtsschreibung, diesen Vorgängen Mittel der wissenschaftlichen Kritik entgegenzusetzen (S. 47).
Es folgen sieben Kapitel, die auf Fallstudien zu Übersetzungen und deren Publikation im 16. und 17. Jahrhunderts zwischen Spanien, Italien, Frankreich und England fokussieren und die späteren Übersetzungspraktiken im 18. Jahrhundert aufgreifen. Korrekturen, Adaptionen und Eingriffe durch die Zensur produzierten neue textuelle Varianten, jede neue Ausgabe veränderte die »Materialität des Textes« (S. 12) ebenso wie die »Migrationen« (S. 13) zwischen unterschiedlichen Genres und Sprachen, die Einfluss auf den Originaltext nahmen. Anhand von Fallstudien zu Castiglione, Molière, Cervantes und Shakespeare werden diese unterschiedlichen Ebenen gelungen zusammengeführt.
Auf der kleinsten Ebene textueller Verbindungen steht die Frage der Übersetzung einzelner Worte: Bei der Übertragung des »Libro del Cortegiano« (1528) von Baldassare Castiglione ins Spanische, Französische, Lateinische und Englische (drittes Kapitel) beschäftigte die Übersetzer etwa die angemessene Wiedergabe von sprezzatura und ihrem Gegenpart der affettazione. Im siebten Kapitel werden solche Fragen im Frankreich des Aufklärungszeitalters fortgesetzt, wo die richtige Wiedergabe des Hamlet-Monolog »To be, or not to be« zeitversetzt in einen regelrechten Übersetzungskrieg zwischen der polemischen Wiedergabe Voltaires und der beschönigenden Darstellung von Pierre-Antoine de La Place und weiterer Autoren mündete.
Im vierten Kapitel erläutert Chartier die Bedingungen, die in der Frühen Neuzeit eine hohe textuelle Mobilität förderten (S. 131): Diese lassen sich an der Publikationsgeschichte von Molières »Festin de pierre«, heute besser bekannt als »Don Juan« (»Dom Juan ou le Festin de pierre«), exemplarisch veranschaulichen: Einem Werk lagen häufig ganz verschiedene Textfassungen zu Grunde (la pluralité des textes), wie sich an Molières Beispiel in der Fassung der Komödie in Paris 1682 und in Amsterdam 1683 zeigt. Unterschiedliche Publikationsformate (la diversité des formes de publication) in Einzeldrucken oder später in Gesamtausgaben bedingten ständige Textadaptionen. Weiteren Einfluss hatte die Umschreibung eines Texts in unterschiedliche Genres (les réécritures), im Fall des »Festin de pierre« von Prosa in eine Versfassung und weiter in eine Bühnenfassung. Schließlich folgten die Aneignungen der Werke (les appropriations des œuvres) und ihrer Interpretation durch die Schauspielenden, die Zuschauerinnen und Zuschauer, die Leserinnen und Leser.
Auf der Ebene der textuellen Migration zeigt sich die häufige Ungleichzeitigkeit der Verbreitung im frühneuzeitlichen Europa: Im Rückgriff auf seine frühere Studie1 untersucht Chartier im sechsten Kapitel die ungleiche Beziehung zwischen Shakespeare und Cervantes. Shakespeare kannte Don Quichotte durch seine Übersetzung von 1612 ins Englische, aber Cervantes wusste nichts über den englischen Dramatiker. Die erste Übersetzungswelle dieses Werkes 1612 bis 1657 ins Englische, Französische, Italienische, Deutsche und Niederländische (S. 53) zeigt den ungleichen Status zwischen den übersetzten Sprachen (meist Spanisch oder Italienisch) und den Übersetzungssprachen wie Englisch oder Französisch. Dieses Verhältnis kehrte sich in späteren Jahrhunderten freilich um (S. 14).
Chartier zeigt anschaulich den Prozess der Entstehung von Autorschaft und deren ökonomischen Fundierungen im Verlagssystem: Mit Übersetzungen ließ sich Geld verdienen, während die Autoren der Werke selbst meist mühevoll mit Widmungen um obrigkeitliche Unterstützung zur Finanzierung ansuchen mussten. Die wachsende Bedeutung der Autorschaft bis ins 18. Jahrhundert lässt sich besonders gut am Beispiel Shakespeares nachvollziehen: Während seine Texte anfänglich nur anonym im Pamphlet-Format und dann mit vereinzelter Namensnennung auf den gebundenen Drucken angeführt wurden, sollte erst mit der Folio-Ausgabe durch Thomas Pavier posthum 1623 Shakespeares Name und Werk »kanonisiert« werden (S. 147). Bei Edward Blount, einem der Verleger, der an der Herausgabe der Folio-Ausgabe Shakespeares beteiligt war, war wiederum auch die Übersetzung des »Don Quichotte« 1612 und 1620 erschienen.
Das abschließende Kapitel »Dieu translateur« widmet sich der metaphorischen Bedeutung von Übersetzungen im protestantischen Kontext Englands und Neuenglands des 17. und 18. Jahrhunderts. John Donne reflektierte 1624 in seinen »Devotions« über das Leben nach dem Tod, indem er das alte Bild der Welt als ein von Gott geschriebenes Buch verwendete. Wenn ein Mensch stirbt, wird nicht ein Kapitel aus dem Buch ausgerissen, sondern von Gott in eine bessere Sprache übersetzt (S. 241). Die Übersetzungs-Metapher setzte sich auch bei anderen anglikanischen wie puritanischen Autoren der Zeit fort. In den neugegründeten Vereinigten Staaten von Amerika bediente sich Benjamin Franklin in seiner Autobiografie schließlich ebenfalls der Entlehnung aus der Verlagsbranche, um das ewige Leben als eine vom Autor korrigierte »schönere Edition« zu beschreiben (S. 251f.).
Chartiers Werk ist für viele buch- und ideengeschichtliche Fragestellungen der frühneuzeitlichen Geschichte inspirierend. Einige Kapitel ließen sich auch gut in der universitären Lehre verwenden. Für eine breitere internationale Rezeption wäre es wünschenswert, dass das Buch auch Übersetzungen ins Englische oder Deutsche erfährt2.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mona Garloff, Rezension von/compte rendu de: Roger Chartier, Éditer et traduire. Mobilité et matérialité des textes (XVIe–XVIIIe siècle), Paris (Éditions de l’EHESS) 2021, 300 p. (Hautes Études), ISBN 978-2-02-147389-6, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.100041