In der evangelischen Kirchengeschichte firmiert das 17. Jahrhundert unter dem Stichwort der protestantischen Orthodoxie. Darunter versteht man ein Festhalten am Bekenntnisstand und an Frömmigkeitsformen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts1. Für die Hugenotten waren hier in erster Linie die »Confessio Gallicana« von 1559 und die »Discipline ecclésiastique de France« von 1570/71 verbindliche Grundlagen des Glaubens2. Grundüberzeugungen waren dabei die vollkommene Verderbtheit des Menschen, Gottes freie Gnadenwahl und der Bundesgedanke, der nur in der reformierten Kirche Gottes wahres Volk sah und nur in ihr Erlösung versprach. Eine Kritik an solchen zentralen Glaubenssätzen führte meist zum Ausschluss vom Abendmahl und damit zu sozialer Marginalisierung innerhalb der eigenen Konfessionsgemeinschaft3.

Der Quellenbegriff Libertinage (frz. für Freizügigkeit/Zügellosigkeit) hingegen bezeichnet im 17. und 18. Jahrhundert die bewusste Abkehr von tradierten religiösen Normen4. Libertinage steht damit in direktem Gegensatz zur reformierten, aber auch zur katholischen Orthodoxie im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Doch wie kam es zu dieser Abkehr von althergebrachten religiösen Normen?

Paul Hazard hat in seinem berühmten Essay »La crise de la conscience européenne 1680–1715« die These vertreten, die intellektuellen Debatten am Ende der Regierung Ludwigs XIV. hätten den Grundstein der Aufklärung gelegt. Einen maßgeblichen Einfluss schreibt er dabei den hugenottischen Gelehrten im niederländischen Refuge zu. Sie verurteilten die Intoleranz der katholischen Kirche, die sie nach der Revokation des Edikts von Fontainebleau ins Exil geführt hatte5. Die Hugenotten trugen dazu bei, dass sich die Vereinigten Provinzen der Niederlande im 17. Jahrhundert als ein Zentrum des europäischen Büchermarktes und der Pressefreiheit etablierten6.

Ein führender Denker im niederländischen Refuge war der hugenottische Philosoph und Journalist Pierre Bayle (1647‑1706). Bayles Œuvre ist in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden7. Seine Aufarbeitung ist eng mit dem Werk des französischen Kirchenhistorikers Hubert Bost verbunden8. Dieser hat nun eine Auswahl seiner Studien unter dem Titel »Bayle. Calviniste libertin« in einem Sammelband veröffentlicht9. Leitgedanke des Bandes ist es, die Spannung des hugenottischen Gelehrten zwischen reformierter Orthodoxie und aufklärerischer Libertinage zu verdeutlichen. Als »Calvinist« erweise Bayle sich durch sein Festhalten am reformierten Glauben und seinen Einsatz für seine verfolgten Glaubensgenossen in Frankreich. Seine Libertinage zeige sich in seiner Religionskritik, seinem Skeptizismus, seiner philosophischen Methode und in seiner Ausdrucksweise (S. 12f.). Diesen Grundgedanken verdeutlicht Bost in 23 Aufsätzen, die im Wesentlichen einen Wiederabdruck älterer Studien darstellen, aber auch die Verschriftlichung zweier bislang unveröffentlichter Vorträge enthalten (S. 435–437). Eine Gliederung der Studien erfolgt nicht.

In seinem ersten Aufsatz untersucht Bost die Korrespondenz zwischen Pierre Bayle und seinen Brüdern. Er geht der Frage nach, inwiefern sich diese als »hugenottisch« charakterisieren lasse. In der Korrespondenz zeige sich die enge Bindung Bayles an seine Herkunft aus einer Pastorenfamilie aus dem Pays de Foix. Der Tod der Brüder während der Glaubensverfolgungen in Frankreich habe das Werk des Philosophen von Rotterdam zeitlebens geprägt (S. 34). Die Korrespondenz Pierre Bayles erweise sich auf dreifache Weise als französisch-reformiert: erstens durch die Selbstzuschreibung ihres Autors, zweitens, weil die meisten seiner Briefpartner ebenfalls Hugenotten waren und drittens durch die häufige Thematisierung hugenottischer Themen (S. 35–51). Dem widersprächen Bayles Grundsätze als (Hochschul-)Lehrer. In dieser Tätigkeit habe er sich stets um eine universelle, überkonfessionell anschlussfähige Argumentationsweise bemüht. Es bleibe aber zweifelhaft, ob ihm dieses Unterfangen gelungen sei (S. 71). Ein entsprechendes geschichtsphilosophisches Vorgehen kennzeichne auch den Artikel zu Johannes Calvin im »Dictionnaire historique et critique«, in dem er historisch-kritisch verschiedene katholische und reformierte Lebensbeschreibungen des großen Reformators miteinander verglich, ohne dessen Apologie zu betreiben (S. 99–124). In anderem Zusammenhang habe Bayle die These vertreten, Geschichte entspreche nur der Wahrheit, wenn sich unterschiedliche Parteien einig seien (S. 373). Ziel sei der Kampf gegen den Aberglauben gewesen, der nicht nur den Katholizismus angriff10, sondern auch seine eigenen Glaubensgenossen nicht verschonte (S. 73–79). Bayle selbst habe für sich einen persönlichen Zugang zur Religion beansprucht, der nicht von einer normierenden Instanz – sei es der katholischen oder der französisch-reformierten Kirche – bestimmt werden könne (S. 271). Aufgrund von Bayles zwiespältigem Verhältnis zu seiner eigenen Glaubensgemeinschaft bezeichnet Hubert Bost den Rotterdamer Philosophen als »protestant compliqué« (S. 157‑173). Dem entspricht auch Bayles Kritik an der theologischen Vernunft, die der zeitgenössische reformierte Protestantismus für sich beanspruchte. Als ein Vordenker der Trennung zwischen Theologie und Philosophie habe der hugenottische Gelehrte bereits Ende des 17. Jahrhunderts erkannt, dass die Vernunft als philosophischer, nicht aber als theologischer Erkenntnisweg gelten könne (S. 175‑194, 205‑233). Bayle musste sich nicht nur deswegen gegen Angriffe verteidigen, keine Religion zu besitzen. Auch seine seltene Teilnahme am Gottesdienst erregte die Skepsis der reformierten Pfarrschaft gegenüber seiner Kirchentreue (S. 195‑204). Mehr noch als sein mangelndes Interesse an den Predigten führte aber sein geschichtsphilosophischer Zugang zur Heiligen Schrift zur Ermahnung durch die Synode der wallonischen Kirche (S. 235‑254). Das zeigt sich nach Bost bspw. in der historischen Interpretation der Geschichte von Adam und Eva in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk, dem »Dictionnaire historique et critique«. Adam stelle für Bayle den Urtyp des Menschen dar, der zwar grundsätzlich vernunftbegabt sei, aber sich im Laufe der Geschichte regelmäßig als unfähig zum Guten erwiesen habe (S. 98).

Da aufgrund der Erbsünde selbst die Religion nicht zum gesellschaftlichen Frieden geführt habe, forderte Bayle das Eingreifen des monarchischen Staates. Der Philosoph von Rotterdam erweise sich damit auf gewisse Weise als ein Vordenker des Laizismus (S. 269f., 375–389). Dem entspreche Bayles Einsatz für den monarchischen Legitimismus und sein französischer Patriotismus, den er auch nach der Revokation des Edikts von Nantes aufrechterhalten habe (S. 341–355, insbes. 353)11.

Aus diesem Grund habe er »la liberté de philosopher« verteidigt, aber den Vorwurf der Libertinage durch orthodoxe Pastoren zurückgewiesen (S. 292f.). Die Glaubens- und Gedankenfreiheit dürfe nach Bayle weder durch weltliche noch die kirchliche Obrigkeit eingeschränkt werden. Vielmehr bestehe sie als Recht der Seele. Die Intuition der Seele und der Vernunft seien die einzigen Waffen, mithilfe derer man sich gegen Exzesse der Obrigkeit zur Wehr setzen dürfe (S. 295–307). Allen Menschen stehe deshalb die Gewissensfreiheit zu (S. 374). Als christlicher Moralist spreche sich Bayle so gegen religiöse und politische Tyrannei aus (S. 413).

Ihm zufolge habe die Geschichtsphilosophie die Aufgabe, die Instrumentalisierung der Religion durch die geistliche und weltliche Obrigkeit im Sinne christlicher Nächstenliebe offenzulegen (S. 374). Grundlage von Geschichte und Philosophie sei die Vernunft. Während die Geschichte Tatsachen feststelle, liefere die Philosophie Konzepte, um die Paradigmen orthodoxer Theologie zu hinterfragen (S. 339).

Auf unterschiedliche Weise hat Pierre Bayle laut Hubert Bost so zur Entwicklung der Geschichtsschreibung seiner Zeit beigetragen. Während zeitgleich der katholische Kirchenhistoriker Jean Mabillon ein intensives Quellenstudium betrieb, um die Heilsgeschichte zu erklären, habe Bayle – auch in Reaktion auf die katholische Kirchengeschichtsschreibung – historiografische Gewissheiten konsequent hinterfragt. Es sei aber ein Anachronismus zu behaupten, Mabillon sei der Vater der Kirchengeschichte und Bayle dagegen Begründer einer in Frankreich weit verbreiteten, säkularen Christentumsgeschichte (S. 309–321). Die posthume Bedeutung des hugenottischen Gelehrten wird anhand einer Spezialstudie zu seiner Rezeption durch den französisch-russischen Philosophen Alexandre Kojève beispielhaft deutlich. Dieser interpretierte Bayle in der 1936 als Vorkämpfer gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts (S. 415–427). Nicht nur an diesem Beispiel wird deutlich, dass Bayles Wirkung als konsequenter Verfechter der Gewissensfreiheit an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert weit über seine Zeit hinausging (S. 429–434).

Positiv sei erwähnt, dass alle Beiträge von »Bayle. Calviniste libertin« auf den Ergebnissen eines lebenslangen, intensiven Quellenstudiums Bosts zum Werk des Rotterdamer Philosophen beruhen. Ein Index der ausgewerteten Artikel aus dem »Dictionnaire historique et critique« und ein Index zitierter Quellen und Autoren erleichtert die bedarfsgerechte Auswertung des Bandes für die künftige Forschung zu Pierre Bayle und der europäischen République des Lettres im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert.

Bosts Detailstudien verdeutlichen zusammengenommen plakativ die Spannung, die sich in Bayles Werk entfaltet, zwischen aufklärerischer Libertinage und reformierter Orthodoxie. Die 23 Beiträge an sich bleiben trotz der Einleitung aufgrund ihres unveränderten Wiederabdrucks unverbunden. Sie ersetzen deshalb nicht Bosts Standardwerk zu Leben und Werk des großen hugenottischen Philosophen12. Darüber hinaus findet im Sammelband der Umstand zu wenig Berücksichtigung, dass Bayle wie seine Zeitgenossen in unterschiedlichen sozialen Kontexten verschiedene Identitäten kultivierte. Die libertinen Ideen des Rotterdamer Philosophen stellen allenfalls in bestimmten Kontexten die dominierende Facette seines Werkes dar. Hilfreich wäre hier die Einordnung Bayles und anderer Frühaufklärer in eine Geschichte der Ambiguität, wie sie Hillard von Thiessen vorgelegt hat13. Dies würde es ermöglichen, ein anderes Licht auf den vermeintlichen Gegensatz zwischen hugenottischer Identität und gelehrter Libertinage zu werfen. Unbestreitbar ist, dass in der Person Bayles das Schicksal der französisch-reformierten Kirche im Zeitalter der Revokation des Edikts von Nantes untrennbar mit der Entstehung frühaufklärerischer Dogmenkritik verbunden blieb.

Pierre Bayle gilt in der Forschung zu Recht als einer der wichtigsten Vertreter der Frühaufklärung. Seinen Kampf für einen rationalen Erkenntnisweg jenseits der Theologie setzten in der Folge zahlreiche Gelehrte fort, die heute weithin dem Vergessen anheimgefallen sind. Ein Diskussionsorgan dieser Gruppe war die Zeitschrift »Histoire critique de la République des Lettres«, die in Holland von den hugenottischen Brüdern Samuel und Jean Masson in Kooperation mit ihrem Cousin Philippe Masson zwischen 1712 und 1718 herausgegeben wurde14. Der kanadische Literaturhistoriker Sébastien Drouin hat Inhalt und Rezeption dieses Periodikums im Rahmen seiner Habilitationsschrift untersucht. Hierfür greift er auf die Ausgaben der Zeitschrift, ihre Erwähnung in zeitgenössischen Veröffentlichungen und in Journalistenkorrespondenzen zurück. Druckschriften und Schriftverkehr wurden von Drouin in Quelleneditionen, aber vor allem in zahlreichen europäischen Bibliotheken und Archiven ermittelt (S. 21, 23–30). Der Autor verweist auf den Umstand, dass sich die Zeitschriften nur in der Wechselwirkung mit den Korrespondenzen der Journalisten verstehen ließen (S. 30)15. Auf Basis der journalistischen Rezeption kann man Drouins Ansicht folgen, Autoren konkurrierender Blätter seien mit dem polemischen Ton, den die »Histoire critique de la République des Lettres« in der Gelehrtendiskussion einführte, nicht einverstanden gewesen (S. 19). Die Debatte um die Zeitschrift habe dabei um drei Hauptkonflikte gekreist: erstens die Verurteilung des Periodikums für seine Interpretation von Psalm 110 durch orthodoxe Theologen und die Synoden der niederländischen und wallonischen Kirche, zweitens die jahrelangen Streitigkeiten über die posthume Herausgabe der Werke Pierre Bayles in der »Histoire critique de la République des Lettres« und drittens die Angriffe auf die Werke des Philologen André Dacier durch die Familie Masson, die zu heftigen Gegenreaktionen führten (S. 20).

Drouin untersucht die Rezeption der »Histoire critique de la République des Lettres« in zwei Teilen. Nach einer Einleitung, die in Thema und Quellencorpus einführt, wird das erste Hauptkapitel unter der Überschrift »Gelehrsamkeit und Polemik um die Typologie der Bibel« gruppiert. Hier steht erstens die reformierte Orthodoxie in den Niederlanden im Mittelpunkt, die auf das Werk Johannes Coccejus (1603–1669) zurückgeht. Dieser legte die Bibel konsequent typologisch aus, indem er die Lehre vertrat, dass sich Geschichten des Alten Testaments stets auf eine Passage des Neuen Testaments bezögen (S. 43). Dies habe die Erwartung des tausendjährigen Reichs Christi in der Gegenwart befeuert (S. 41–44). Hier sollte später die philologische Kritik der »Histoire critique de la République des Lettres« ansetzen, die auf einige Vorläufer zurückblicken konnte. Der erste bedeutende Kritiker der coccejianischen Typologie war Jean Le Clerc. Seine Zugehörigkeit zur arminianischen Minderheitskirche und auch seine grundlegende Vermeidung von persönlichen Angriffen hätten dazu beigetragen, dass er seine Thesen weitgehend unbehelligt verbreiten konnte (S. 51–55). Für ihn habe eine Art Narrenfreiheit gegolten, die die reformierte Mehrheitskirche nicht tangierte. Diese Umstände trafen jedoch nicht auf den hugenottischen Pastoren Pierre de Joncourt zu, der seinerseits ebenfalls die Typologie des Coccejus angriff. Joncourts polemischer Ton habe zu Spannungen zwischen der niederländischen Öffentlichkeits- und der wallonischen Flüchtlingskirche geführt. Auf Druck der Niederländer habe ihn die französisch-reformierte Synode zum Widerruf seiner Thesen gezwungen (S. 56–75).

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr der »Histoire critique de la République des Lettres« für ihre Polemik gegen die coccejianische Interpretation des 110. Psalms, der der zweite Teil des ersten Kapitels gewidmet ist. Der 110. Psalm wurde seit der Antike als Verweis auf die Ankunft Christi und Ankündigung seines Opfertodes verstanden. Dieser Auslegung folgten auch Coccejus, seine Anhänger und die reformierte Orthodoxie (S. 79). Samuel Masson hingehen interpretierte den Psalm auf historisch-kritische Weise und sah allein David als Protagonisten des Textes. Auf diese Weise weigerte er sich, einen Bezug zu Christus herzustellen, den die Anhänger Coccejus ins Zentrum ihrer Exegese stellten (S. 84–97). Die Orthodoxen verurteilten vehement Massons neuartige Auslegung dieser zentralen Bibelstelle des Alten Testaments in der Presse und auf der niederländischen und wallonischen Synode. Der polemische Ton Samuel Massons habe zudem die Auseinandersetzung weiter verschärft (S. 97–131). Im hugenottischen Refuge hätten die Brüder Masson dadurch allen Rückhalt verloren (S. 131).

Das zweite Hauptkapitel firmiert unter dem Titel »Lächerliche Gelehrsamkeit«. Im ersten Teil wird die Schrift »Le Chef-d’œuvre d’un inconnu« untersucht, die die Kritik der Brüder Masson an der typologischen Auslegung des Alten Testaments als »Eselei« verspottete (S. 135–158). Der zweite Teil widmet sich dem Vorwurf des Scharlatanismus, dem heterodoxe Gelehrte durch die reformierte Pastorenschaft und ihre Anhänger ausgesetzt waren. Man unterstellte den theologischen Abweichlern eine falsche Übersetzung und Lesart der Heiligen Schrift (S. 193). »Le Chef-d’œuvre d’un inconnu« habe unter dem Deckmantel der Kritik an der gelehrten Libertinage selbst eine heterodoxe Bibelkritik betrieben (S. 211). Dank der literarischen Auseinandersetzungen um dieses und ähnliche Werke hätten sich die Niederlande Anfang des 18. Jahrhunderts zu einem Zentrum heterodoxen Gedankengutes entwickelt (S. 221f.).

Drouin kommt zum Schluss, dass die Debatte um heterodoxe Ideen von wirtschaftlichen Interessen der Autoren, Herausgeber, Drucker und Buchhändler beflügelt worden sei (S. 225). Zentrale Akteure seien dabei die französischen Freidenker und hugenottischen Flüchtlinge gewesen, die in den Niederlanden ein neues Auskommen suchten und sich so den Logiken des Marktes unterwarfen (S. 226–229). Ein wichtiges Motiv sei dabei der Angriff auf abergläubische Praktiken und den Amtsmissbrauch der Prediger gewesen. Das habe zu einer Reihe von Publikationen geführt, die die Religion selbst angriffen (S. 229). Nicht erwähnt wird von Drouin, dass es sich hierbei um Topoi der antikatholischen Kontroverstheologie handelte, die nun auch von hugenottischen Gelehrten und heterodoxen Pastoren auf die eigene Glaubensgemeinschaft übertragen wurden. Die historisch-kritische Auslegung des 110. Psalms in der »Histoire critique de la République des Lettres«, die nicht Christus, sondern König David beschrieb, habe jedoch die Verteidiger der Orthodoxie auf den Plan gerufen (S. 230). Andere Freidenker hätten die abschließende Verurteilung umgangen, indem sie sich nicht öffentlich äußerten oder vor den Synoden Abbitte leisteten (S. 231). Religiöse und philosophische Heterodoxie seien schließlich kaum mehr voneinander zu trennen gewesen, insbesondere wenn sie an hergebrachten Bibelinterpretationen rüttelten (S. 232). Tradierte Glaubensgewissheiten seien im Europa des frühen 18. Jahrhunderts auf diese Weise zunehmend in Frage gestellt worden (S. 232).

Die Habilitation von Sébastien Drouin löst durch ihren kulturhistorischen Ansatz ein, was seit Jahrzehnten an der älteren Ideengeschichte kritisiert wurde16. Sie untersucht nicht nur die philosophische Höhenkammliteratur, sondern auch Gelehrte der zweiten und dritten Reihe. Auf diese Weise gelingt es ihr, die Breitenwirkung der Geschichtsphilosophie eines Pierre Bayle im niederländischen Refuge zu ermessen. Wie auch Hubert Bost verweist Drouin darauf, dass sich Libertinage und Aufklärung nicht gegen die Religion, sondern aus der Theologie selbst heraus entwickelten. Hugenottischen Autoren kam dabei eine Schlüsselrolle zu, da sie sich nicht allein auf den Kampf gegen die Intoleranz der katholischen Kirche beschränkten, sondern zunehmend auch eigene Glaubensgewissheiten hinterfragten.

1 Martin Sallmann, Protestantische Orthodoxie. in: Marco Jorio (Hg.), Historisches Lexikon der Schweiz, Basel 2011, Bd. 10, S. 13f.
2 »Confessio gallicana« von 1559, in: E. F. Karl Müller (éd.) Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirchen, Leipzig 1903, S. 221–232; La discipline ecclésiastique des églises réformées de France, La Rochelle 1570–1571 [Universitätsbibliothek Kassel, 4° Ms. theol. 79]. Diese wurden seit 1618 durch die »Canones« der Synode von Dordrecht ergänzt, die für die rechtgläubigen Reformierten überall in Europa den Glauben an die Lehre von der doppelten Prädestination verbindlich machten. Siehe Herman Selderhuis, Donald Sinnema, Christian Moser (éd.), Acta et Documenta Synodi Nationalis Dordrechtanae (1618–1619), Göttingen 2015. Lediglich eine Minderheit verständigte sich auf eine liberale Lesart von Gottes freier Gnadenwahl, die Gottes Allmacht durch die Behauptung eines freien Willens Grenzen setzte. Sie wurde aus der reformierten Öffentlichkeitskirche der Niederlande ausgeschlossen und fand sich fortan in der Remonstrantischen Bruderschaft zusammen. Die Anhänger dieser Kirche wurden nach ihrem führenden Theologen auch als Arminianer bezeichnet.
3 Vgl. Bernard Roussel, Faire la Cène dans les églises réformées du royaume de France au XVIe siècle, in: Archives de Sciences Sociales des Religions 85 (1994), S. 99–119; Jochen Desel, Zugang zum Abendmahl. Méreaux im deutschen Refuge und in anderen deutschsprachigen Gemeinden, Bad Karlshafen 2013.
4 Michel Delon, Débauche, Libertinage, Libertin, in: Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, München 1992, S. 7–39; ders., Le Savoir-vivre libertin, Paris 2000.
5 Paul Hazard, La crise de la conscience européenne 1680–1715, Paris 1935. Zur Kritik und weiteren Nutzbarkeit der These der Krise des europäischen Geistes vgl. Jean Mesnard, La crise de la conscience européenne: un demi-siècle après Paul Hazard, in: Louise Godard de Donville (Hg.), De la mort de Colbert à la révocation de l’édit de Nantes: un monde nouveau?, Marseille 1985, S. 185–198.
6 Vgl. bspw. Hans Bots, Librairie néerlandaise, in: Catherine Secretan, Willem Frijhoff (Hg.), Dictionnaire des Pays-Bas au Siècle d’or, Paris 2018, S. 438–441; Marion Brétéché, Les compagnons de Mercure. Journalisme et politique dans l’Europe de Louis XIV, Ceyzérieu 2015.
7 Vgl. bspw. Hans Bots (Hg.), Critique, savoir et érudition à la veille des Lumières. Le »Dictionnaire historique et critique« de Pierre Bayle (1647–1706), Amsterdam 1998; Antony Mc Kenna, Études sur Pierre Bayle, Paris 2015 (Vie des huguenots, 70); Élisabeth Labrousse, Pierre Bayle, Paris 1996; Gianluca Mori, Bayle philosophe, Paris 2020 (Vie des huguenots, 9); Nicola Stricker, Die maskierte Theologie von Pierre Bayle, Berlin, New York 2003 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, 84).
8 Vgl. u. a. Hubert Bost, Bayle et la »normalité« religieuse, Laval 2007; ders. Pierre Bayle, Paris 2006; ders., Pierre Bayle historien, critique et moraliste, Turnhout 2006 (Bibliothèque de l’École des hautes études – Sciences religieuses, 129); ders. Pierre Bayle et la religion, Paris 1994 (Philosophies, 48); ders., Un »intellectuel« avant la lettre: le journaliste Pierre Bayle. L’actualité religieuse dans les Nouvelles de la République des Lettres (1684–1687), Amsterdam 1994 (Études de l’Institut Pierre Bayle, 23).
9 Hubert Bost, Bayle calviniste (wie Anm. 1).
10 Spezifisch antikatholisch war hingegen Bayles Kritik an der Reliquienverehrung, der das 7. Kapitel von Bost gewidmet ist. Ibid., S. 125–155.
11 Ibid., S. 341–355, insbes. 353. Das entspricht auch der hugenottischen Staatslehre. Vgl. Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert. Die politische Lehre der Akademien Sedan und Saumur, mit besonderer Berücksichtigung von Pierre Du Moulin, Moyse Amyraut und Pierre Jurieu, Berlin 1975 (Historische Forschungen, 8). Bayles Position stellte politikgeschichtlich also keinesfalls einen Sonderfall dar.
12 Hubert Bost, Pierre Bayle, Paris 2006 (wie Anm. 9).
14 Sébastien Drouin, Journalisme (wie Anm. 1), S. 12–14.
15 Andere Rezipienten der Zeitschriften bleiben jedoch unberücksichtigt. Das lässt sich methodisch vor allem mit der schwierigen Überlieferungslage erklären. Zudem richteten sich die Zeitschriften des frühen 18. Jahrhunderts primär an ein gelehrtes Publikum. Vgl. Jean-Pierre Vittu, »Le peuple est fort curieux de nouvelles«: l’information périodique dans la France des années 1690, in: Haydn Mason (Hg.), Pour encourager les autres. Studies for the Tercentenary of Voltaire’s Birth 1694–1994, Oxford 1994 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 320), S. 105–144, hier 127.
16 Vgl. bspw. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2009., S. 33f.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Mühling, Rezension von/compte rendu de: Hubert Bost, Bayle. Calviniste libertin, Paris (Honoré Champion) 2021, 456 p. (Vie des huguenots, 88), ISBN 978-2-7453-5497-6, EUR 75,00; Sébastien Drouin, Journalisme et hétérodoxie au Refuge hollandais. Le cas de l’»Histoire critique de la République des Lettres« (1712–1718), Paris (Honoré Champion) 2023, 348 p., 8 p. de pl. (Vie des huguenots, 94), ISBN 978-2-7453-5832-5, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2023/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.3.100042