Der zu besprechende Tagungsband widmet sich Alain von Lille, einem der »einflussreichsten und vielschichtigsten ›Intellektuellen‹ des europäischen Mittelalters«, wie die Herausgebenden Beate Kellner und Frank Bezner einleitend festhalten (S. 1). Wie sie richtig konstatieren, existieren zu ihm nur wenige deutschsprachige Studien; auch das Erscheinen des wichtigen Sammelbands »Alain de Lille, le docteur universel«, der eine internationale Autorenschaft versammelt, liegt nun fast 20 Jahre zurück. Angesichts weitreichender Paradigmenwechsel in der Erforschung des 12. Jahrhunderts, die insbesondere durch wissensgeschichtliche Zugänge angeregt wurden, ist es das Ziel der Herausgebenden, diese neuen Perspektiven auch auf Alain von Lille anzuwenden.
In diesem Fall bedeutet das konkret, erkenntnisleitende Konzepte wie die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« oder die »Schule von Chartres« u. a. durch Fragen nach der Produktion und Durchsetzung von Wissen und gelehrter Autorität abzulösen. Die Herausgebenden verstehen ihren Band als einen ersten Aufschlag für diese Forschungsagenda und grenzen ihren Untersuchungsgegenstand überwiegend auf die breit rezipierten dichterischen Werke des Alanus ein. Frank Bezner hat mit seiner Dissertation von 2002 wesentlich zur Vorbereitung eines solchen Vorgehens beigetragen, während Beate Kellner in ihrem DFG-Teilprojekt »›Natura‹ als kosmische und politische Ordnungsinstanz bei Alanus ab Insulis und in der lateinischen sowie volkssprachlichen Rezeption« die an modernen Grundsätzen der Rezeptionsforschung orientierte Untersuchung der Alain-Verarbeitung vorangetrieben hat. Die einleitenden Bemerkungen der beiden Herausgebenden lesen sich mit großer Zustimmung und Vorfreude auf die Beiträge.
Während der erwähnte ältere Band zum »Docteur universel« überwiegend ideengeschichtliche Fragen im Werk des Magisters behandelt, liegt in Bezners und Kellners Publikation der Schwerpunkt auf dem kreativen Nachwirken seines Œuvre. Die Beitragenden, deren Aufsätze hier nur punktuell besprochen werden können, widmen sich der Rezeption des Alanus bei bekannten Autoren wie Jean de Meun (David F. Hult), Chaucer (James Simpson), Dante (Andreas Kablitz), Frauenlob (Annette Volfing, Beate Kellner, Margreth Egidi), Heinrich von Neustadt (Magdalena Butz) und Heinrich von Mügeln (Alexandra Urban) bzw. nehmen eine vergleichende Betrachtung vor, berücksichtigen aber auch weniger prominente Autoren wie Adam de la Bassée (Thomas Haye) oder die geschickte Nutzung von Alanus-Zitaten in gelehrten Prager Kreisen des 14. und 15. Jahrhunderts (Michael Stolz). Mit dieser Auswahl gelingt es, die im Buchtitel genannten europäischen Dimensionen der kulturgeschichtlichen Bedeutung Alains exemplarisch abzudecken. Erik Schilling beschließt den Band mit einer Studie zu den intertextuellen Bezügen in Umberto Ecos »Il nome della rosa«, in dem auch Alanus begegnet. Zuweilen entsteht durch diesen Schwerpunkt aber der Eindruck, dass es doch weniger um eine Neuperspektivierung des Autors in seiner Zeit geht – was einzelne Beiträge wie etwa die von Frank Bezner, Andreas Niederberger und Niklaus Largier durchaus vornehmen – als um eine gründliche Erforschung der Verarbeitung Alain’schen Denkens. Diese ist zweifellos nötig, doch bleibt damit mehr von dem einleitend konstatierten Forschungsdesiderat bestehen als angekündigt.
Gerade der erste Beitrag von Peter Adamson zur Weltseele in der Philosophie des Mittelalters trägt nur geringfügig zum Anliegen des Bandes bei, auch wenn das Thema bei Alanus eine Rolle spielt. Ihm werden jedoch nur knapp zwei Seiten gewidmet. Eine Anmerkung klärt darüber auf, dass der Text bereits auf Englisch in einer anderen Publikation erschienen ist, doch enthält er sogar noch dessen Verweis auf ein »vorherige[s] Kapitel« (S. 14) über Platoniker – das im hier zu besprechenden Band logischerweise nicht enthalten ist.
Dagegen konzentriert sich der folgende Beitrag von Andreas Niederberger ganz auf Alain von Lille und die Frage, inwieweit er zur Entwicklung mittelalterlicher Metaphysik beitrug – eine Leistung, die den Autoren des 12. Jahrhunderts in der Forschung lange abgesprochen wurde. Klar formuliert und deutlich nachvollziehbar arbeitet Niederberger die diesbezüglichen Beiträge Alains heraus und findet dabei die sehr begrüßenswerte Balance zwischen einer kontextsensiblen Würdigung dieser Leistungen eigenen Rechts und deren Einordnung in größere philosophiehistorische Zusammenhänge. Auch kann man ihm nur ausdrücklich zustimmen, wenn er mit Blick auf philosophiehistorische Wandlungsprozesse und deren nach wie vor wirkmächtige Erklärung abschließend zuspitzt: »Nicht die Aristoteles-Rezeption an sich erklärt die radikale Transformation des Denkens ab dem 13. Jahrhundert, sondern die Aristoteles-Rezeption ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Fragen, die die Autoren des 12. Jahrhunderts sich und ihren Nachfolgern stellen« (S. 61). Interessant wären noch einige Ausführungen dazu gewesen, wie sich die hier erzielten Ergebnisse zur Studie von Carlo Chiurco verhalten, der bereits 2005 argumentierte, dass Alain seine Theologie (auch) als Metaphysik begreift.
Die anschließenden 13 Beiträge richten nun unterschiedliche Fragen an das dichterische Werk des Pariser Magisters. So arbeitet etwa Frank Bezner das wechselseitige Verhältnis zwischen Alains »De Planctu Naturae« und der zeitgenössischen Liebeslyrik heraus, berücksichtigt zudem den Einfluss von Martianus Capellas »De nuptiis« und kann dadurch zeigen, wie Alain es vermag, seine Vorstellung legitimer Liebe und Sexualität zu kommunizieren. Angesichts komplexer Bezüge, so Bezner, griffen Begriffe wie »Einfluss« und »Wirkung« hier zu kurz, was ihn abschließend zu der These führt: »Eher als von Rezeption sollte man im Falle des ›Planctus‹ in konzeptioneller Innovation somit von einem ›Alanus-Paradigma‹ sprechen, in dem Texte in verschiedener Nähe und Distanz zum Werk des ›doctor universalis‹ zu verorten sind und sich an den von ihm entwickelten Problemen und Intertexten abarbeiten« (S. 84). Mit der darauffolgenden Untersuchung von Thomas Haye zum »Ludus super Anticlaudianum« aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts beginnt dann der schwerpunktmäßig verfolgte Zugang zu Alain über seine Rezeption bei späteren Autoren. Hier wird gezeigt, wie die Motive des »Anticlaudianus« zu einer Klerikersatire verarbeitet werden.
Insgesamt zeichnen sich alle der 16 Beiträge durch ihre kreativen Ansätze, klare Argumentationsführung und produktive Auseinandersetzung mit der älteren Forschung aus – für letzteren Punkt sei noch ausdrücklich auf die Studie von Beate Kellner verwiesen, die Frauenlobs »Marienleich« einer sehr überzeugenden relecture unterzieht und neben der Erotisierung der Marienfigur auch die (von der »Orthodoxie« her gedachten) heiklen mariologischen Aussagen herausarbeitet. Der Band wurde überwiegend gründlich redigiert, nur kleinere Tippfehler sowie – mit Blick auf die Übersetzung von Quellenzitaten und die Länge von Abstracts und einzelnen Beiträgen – eine gewisse Uneinheitlichkeit wären zu erwähnen. Keinesfalls mindert dies aber die Freude an der Lektüre der abwechslungsreichen Zusammenstellung, die mit Sicherheit auch für Forschungen zu anderen Autorinnen und Autoren des 12. Jahrhunderts und ihrem »Fortleben« Anregungen liefern kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anne Greule, Rezension von/compte rendu de: Frank Bezner, Beate Kellner (Hg.), Alanus ab Insulis und das europäische Mittelalter, Paderborn (Wilhelm Fink Verlag) 2022, 455 S., ISBN 978-3-7705-6659-4, EUR 101,87., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101273