»Stadtgesellschaft und Memoria« gehörten zu den zentralen Forschungsthemen Thomas Schilps (1953–2019), der noch eine Monografie zu diesem Thema begonnen hatte, die er bedauerlicherweise nicht mehr abschließen konnte. Der hier besprochene Band ist seinem Andenken gewidmet. Er enthält eine Auswahl von dreizehn in den Jahren 1995–2018 veröffentlichten Aufsätzen, einen auf diese Zusammenstellung bezogenen bibliografischen Apparat und ein Gesamtverzeichnis der Publikationen. Zu Beginn würdigt Wilfried Reininghaus »das Werk eines Freundes«: In Friedberg geboren, beschäftigte sich der Geehrte, der in Marburg studierte, in seiner Dissertation zunächst mit der Wetterau und der Reichsburg Friedberg (1981) und erstellte ein Regestenwerk zu dieser Reichsburg (1987). Zu seinen wissenschaftlichen Stationen gehörte das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Gegenstand seiner 1994 an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg angenommenen Habilitationsschrift waren Frauenstifte im frühen Mittelalter. Auch in den folgenden Jahrzehnten widmete er seine Forschungen immer wieder dem Frauenstift Essen. Er lehrte als außerplanmäßiger Professor in Duisburg und, nach seiner Umhabilitation (2014), in Bochum. 2011‑2014 leitete der ausgebildete wissenschaftliche Archivar Schilp das Stadtarchiv Dortmund. Er war Mitherausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Reihen.
Die in die Sammlung aufgenommenen Aufsätze sind drei Sektionen zugeordnet: »Memoria und Stadt«, »Memoria und Stadtgesellschaft« und »Rauminszenierung«. In geografischer Hinsicht spiegeln sie Stationen des Lebenswegs und Wirkungsstätten ihres Verfassers wider: Dortmund und kleinere Städte und Dörfer in seiner Nähe, die Grafschaft Mark, Westfalen, das Frauenstift Essen und Friedberg. Den Auftakt macht die Duisburger Antrittsvorlesung von 1995, in der es um »Tod und Jenseitsvorsorge in der spätmittelalterlichen Stadt« geht. Im Rahmen der Aufsatzsammlung übernimmt sie eine Einleitungsfunktion. Sie spricht bereits mehrere der methodischen und inhaltlichen Aspekte und Leitmotive sowie zentrale Ereignisse der Stadtgeschichte Dortmunds an, die den Autor in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen sollten. Die mittelalterliche Stadtgesellschaft sei eine durch die Ausrichtung auf das Jenseits geprägte Sakralgemeinschaft gewesen. Urkunden, die persönliche oder korporative Stiftungen zu Gunsten der Kirche oder religiöser Institutionen im weitesten Sinn in rechtserheblicher Form fixierten, seien schon bei oberflächlicher Betrachtung »geradezu ein Schlüssel« zu ihrer Erkenntnis (S. 24).
In methodischer Hinsicht bezieht sich der Verfasser immer wieder auf die Forschungen Otto Gerhard Oexles zu Memoria und die Feststellung, dass im Mittelalter Tote Rechtssubjekte blieben (es gab postume Prozesse). Damit waren sie auch weiterhin Subjekte von Beziehungen der menschlichen Gesellschaft und bedurften der Fürbitte und der Memoria-Pflege durch die Lebenden (S. 24). In diesem Zusammenhang formuliert Schilp eine These, die programmatisch auch für die übrigen Aufsätze gilt: »Diese Gemeinschaft der Lebenden und der Toten wurde zu einem wesentlichen Element der Bildung sozialer Gruppen des Mittelalters, ja in der städtischen Gemeinschaft können wir aufgrund erheblicher Überlieferungsverluste Gruppenbildungen oft nur über memoriale Bezüge feststellen« (S. 25). Die Untersuchungen Jacques Le Goffs zur »Geburt des Fegefeuers« (1981) stellen einen weiteren wichtigen Bezugspunkt dar. Die Entwicklung mittelalterlicher Theologie und die Beschlüsse des Vierten Laterankonzils bzw. deren Folgen für Buß- und Beichtpraktiken, Pfarrkirchen als Herrschaftsinstrument und die Entwicklung von Individualität im Mittelalter werden in einem der späteren Aufsätze (2018) anhand des Beispiels des Frauenstifts Essen im 13. Jh. thematisiert.
In mehreren Beiträgen spielen besonders bedeutsame Elemente und Ereignisse der Dortmunder Stadtgeschichte eine wichtige Rolle: das erste überlieferte Stadtsiegel mit symbolischen Bezügen zum himmlischen Jerusalem, zur Vorstellung der heiligen Stadt und zu städtischen Autonomiebestrebungen; die Reichsstadtsymbolik; die älteste Stadtansicht; die Verehrung und bildliche Darstellung des Stadtpatrons und Beschützers der Stadt, des heiligen Reinoldus; das Ratswahlstatut von 1260 und spätere Regelungen von Ratswahlverfahren und die Wiederherstellung innerstädtischen Konsenses; die Frage politischer Partizipation der Handwerker und ihrer Korporationen; die siegreich bestandene Große Fehde von 1388/1389 des Erzbischofs von Köln und der Grafen von der Mark gegen die Stadt (mit anschließenden erheblichen finanziellen Problemen); der sog. Verrat der Agnes von der Vierbecke (1378); die Diskussion um die »Revolution« von 1399/1400; der Streit um die Patronatsrechte der Reinoldikirche als Pfarrkirche mit dem Kölner Stift Mariengraden, der 1262–1290 zu einem Prozess führte, und das in diesem Zusammenhang bedeutsame spätere Auftreten der Stadt als Bauherr des Ratschores dieser Kirche (1421–1456) mit feierlicher Grundsteinlegung; bürgerliche und korporative Stiftungen; der Umgang mit dem mittelalterlichen Erbe anlässlich des Besuchs Kaiser Wilhelms II. in Dortmund zur Eröffnung des Dortmund-Ems-Kanals 1899.
Im Verlauf der Lektüre begegnet der Leser immer wieder zwei Aspekten der mittelalterlichen Existenz Dortmunds: der Eigenschaft als Reichsstadt und dem Fernhandel bzw. der Zugehörigkeit zur Hanse als Quelle des Reichtums und Hintergrund von Vorgängen des Kulturtransfers. Besonders interessant ist der Versuch, sich bei Kaiser Ludwig dem Bayern durch Auslassung einer Passage in einer Privilegienbestätigung ein »passenderes« Ratswahlrecht zu verschaffen, das stärker der bisherigen Praxis und erfolgreich ausgehandelten Kompromissen entsprach als den ursprünglich vom Herrscher verfolgten Intentionen (1332).
Zu den interessantesten Beiträgen gehört der letzte Aufsatz zum Kaiserbesuch von 1899 und zum Umgang der explosionsartig gewachsenen aufstrebenden Industriestadt Dortmund mit der eigenen reichsstädtischen Vergangenheit. Dazu gehörten beispielsweise die Erhaltung und durch Spenden finanzierte (Neu-)ausstattung des Rathauses (eines architekturhistorisch sehr bedeutenden Steinbaus, den man zuvor zum Abriss vorgesehen hatte und der nun im Sinne der zeitgenössischen Vorstellungen restauriert bzw. stark umgebaut und modifiziert wurde); die Errichtung eines Stadttores aus Pappmaché (statt echter abgerissener Tore) und die Bezugnahme auf mittelalterliche Herrscher und deren Besuche (Karl der Große als imaginärer vermeintlicher Stadtgründer; Karl IV.) usw.
Einige der Aufsätze zeigen die reichen Erträge interdisziplinärer Zusammenarbeit des Geehrten mit Vertretern anderer wissenschaftlicher Disziplinen wie Kunst- und Architekturgeschichte, Musikwissenschaft etc., und sie stellen, wie der Aufsatz zum Dortmunder Musikleben mit Spielleuten, Orgel und Scholarenchören, Brücken zu aktuellen Forschungsthemen der letzten Jahre wie der Untersuchung von Objekten, paysages sonores und Rauminszenierungen her (z. B. der Beitrag zur »Memoria in der Dunkelheit der Nacht: Lichtinszenierung mittelalterlicher Kirchen zum Totengedenken«).
Der gesamte Band wird durch ausgezeichnetes und sehr interessantes Bildmaterial illustriert. Da die Aufsätze »weitestgehend in ihrem originalen Wortlaut wiedergegeben« sind (S. 10), vermitteln sie einen unmittelbaren Eindruck vom Werk Schilps. Da sie vom Autor nicht zur gemeinsamen Publikation vorgesehen waren, führt das gelegentlich zu inhaltlichen Überschneidungen – die aber auch eine Art roten Faden ergeben und die Thematik stärker zusammenbinden. Insgesamt gesehen haben die Herausgeber ihr Ziel, das Werk eines Freundes, Weggefährten und verdienten Kollegen zu würdigen und im Sinne seiner Untersuchungsgegenstände zu seiner Memoria beizutragen, sehr gut erreicht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Thomas Schilp, Stadtgesellschaft und Memoria. Die Ausrichtung auf das Jenseits und ihre sozialen Implikationen, hg. von Arnoud-Jan Bijsterveld, Meta Niederkorn, Annemarie Stauffer, Turnhout (Brepols) 2023, 402 S. (Memoria and Remembrance Practices, 3), ISBN 978-2-503-59993-9, EUR 110,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101274