Kartografische Zeugnisse aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen während der Epoche, die wir gemeinhin als das europäische Mittelalter bezeichnen, finden mehr und mehr das Interesse der mediävistischen Forschung. Dabei litten vor allem die Zeugnisse aus dem lateineuropäischen Bereich lange unter dem Verdikt, dass es sich nicht um echte Karten handele, weil die Kartenmacher noch nicht ordentlich vermessen konnten. Doch die vielfältigen Entwicklungen, welche in der im vorliegenden Band angesprochenen Zeit zu verzeichnen sind, zeugen von vielfältigen Maßstäben, die bei der Repräsentation von Räumen angelegt wurden. Und der Vergleich mit Karten aus der »arabischen Welt« (nicht der »islamischen«, denn anders als im lateinischen Bereich ist hier kaum ein religiöser Aspekt in der Kartografie zu verzeichnen) kann Besonderheiten besser herausfiltern als das Messen an modernen kartografischen Kriterien. Angesichts der angesprochenen Vielfalt ist es schwierig, alle möglichen Karten miteinander kulturübergreifend zu vergleichen. Der vorliegende Band konzentriert sich auf die sich entwickelnde Regional- und Lokalkartografie, die auch in Lateineuropa eher pragmatisch-herrschaftlichen Zwecken diente als spirituellen (wie etwa die mappae mundi).

In 14 Beiträgen (acht in französischer, fünf in englischer, einer in italienischer Sprache), aufgeteilt in vier sehr unterschiedlich umfangreiche thematische Abteilungen, dazu Einleitung und conclusion, wird der Problembereich breit aufgestellt und reich illustriert beleuchtet (in einem Buchformat, das geeignet ist, Karten in hinreichender Größe abzubilden).

Auf die Einleitung der Herausgeber folgen unter der Überschrift »Genese und Charakteristika einer regionalen und lokalen Kartographie« fünf Beiträge, die generelle Fragen ansprechen oder an konkreten Beispielen ausführen. Der Doyen der lateineuropäischen Kartografiegeschichte, Paul D. A. Harvey, denkt über die Rolle persönlichen Wissens für Regionalkarten aus Lateineuropa nach, das vor einem halben Jahrhundert wichtig war für seine eigene Definition solcher Karten. Die Mitherausgeberin Nathalie Bouloux spitzt zu auf die Genese und die Formen einer Regionalkartografie im Westen zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert, ausgehend von topografischen Diagrammen in Handschriften antiker Autoren. Wichtigen Einfluss auf das politische Verstehen der Welt und auf ihre Regionalisierung und Territorialisierung nahm, so Georges Tolias, die politische Rezeption der Anfang des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzten Geografie des alexandrinischen Gelehrten Ptolemäus (2. Jh.), vor allem zwischen ca. 1420 und 1480. Am Beispiel der rätischen Alpen als Ursprung wichtiger oberitalienischer Flüsse schreibt Marica Milanesi die »Kurze Geschichte eines unmöglichen [Fluss]Netzes« und weist anhand von Italienkarten des 15. und 16. Jahrhunderts auf die kartografische Schwierigkeit hin, Quellgebiete und Oberläufe zwischen Alpentälern festzulegen. Und Sabine Hynek fragt anhand von Nürnberg als einem kartografischen Zentrum um 1500 danach, wie man den Austausch geo- und kartografischen Wissens zwischen Zentren und Personen greifen kann.

Auch das Kapitel »Définir et cartographier la région« (zum Zusammenhang zwischen genauer Beschreibung und Kartierung von Region) versammelt fünf Beiträge. Alfred Hiatt widmet sich der Darstellung von »Provinzen« im arabisch-islamischen und lateinisch-christlichen geografischen Denken, im einen eine verbreitete administrative Einheit, im anderen stärker der römischen Vergangenheit verhaftet. Entwicklungen über die Zeit ganz auf der arabischen Seite betrachtet Jean-Charles Ducène, indem er die Beschreibungen und Kartierungen der Regionen des islamischen Ostens von Ibn Hawqal (10. Jh., Bagdad) als Quellen des Idrisi (12. Jh., Sizilien) festhält. Die frühesten pragmatischen Karten regionalen Zuschnitts im lateinischen Westen widmen sich den Küstenlinien – und Emmanuelle Vagnon betrachtet sie zusammen mit Inselkarten (am Beispiel Zyperns, 13. bis 16. Jh.) als Erfindung eines maritimen regionalen Raumes. Patrick Gautier Dalché widmet sich erneut einer Italienkarte, einem Jacques Sigault zugeschrieben (Ende 14. Jh., den er, wie so oft, aus der Vergessenheit befreit), die im Kontext der französischen Italienzüge als politische pragmatische Regionalkartografie zu verstehen ist: Sie zeigt die Wege oder »Eingänge« nach Italien hinein. Und auf der arabischen Seite fällt der Blick auf die »Genealogie« der regionalen Kartierung des Nil und seiner Quellen in den Handschriften von al-Suyūtī (1445–1505), die Robin Seignobos nachzeichnet (von Darstellungen, die sich auch auf arabischen und mehr und mehr lateineuropäischen Weltkarten ausbreiten).

Das dritte Kapitel mit drei Beiträgen engt die Betrachtung der regionalen Karten auf bestimmte funktionale Kontexte, auf Territorium und Verwaltung, ein (»Cartographie locale, territoire et administration«). Auch im Westen wurde nicht nur das Meer, sondern auch Flüsse kartografisch erfasst, wie in der Serie zum Fluss Vilaine in der Bretagne von ca. 1543, die Camille Serchuk als zwischen »Illustration, Illumination and Innovation« erklärbar vorstellt. Gerade Wasser und seine Nutzung scheinen zu den frühesten Anlässen für Kartografie kleiner Räume gehört zu haben. Juliette Dumasy-Rabineau zieht eine Streitkarte mit Darstellung von Albi von 1312 als frühes Beispiel der im 14. Jahrhundert in Westeuropa im Bereich von Recht und Gericht regelmäßiger auftretenden lokalen Kartografie heran und setzt sie in den Kontext der zeitgenössischen Buchmalerei. Und Paul Fermon zeigt vor allem für das 15. Jahrhundert, wie die lokale, mehr und mehr der Maßstäblichkeit verpflichtete Kartografie den entstehenden zentralen Verwaltungen half, umstrittene Territorien besser zu begreifen und zu »entdecken«.

Unter der Kapitelüberschrift »Die Karte im digitalen Zeitalter« blickt im einzigen Beitrag dieser Sektion Nick Millea auf die berühmte England-»Gough Map« aus dem 14. Jahrhundert, deren »Geheimnis« näherzukommen seit einiger Zeit mit modernsten spektroskopischen Mitteln versucht wird. Die Zusammenfassung schließlich von Stéphane Boissellier unter der Überschrift »Regionale Realitäten und gelehrter Diskurs im Bild« schließt den Band ab, der zahlreiche sehr verschiedene, aber zugleich das Problem breit beleuchtende Beiträge zusammengebracht hat.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Felicitas Schmieder, Rezension von/compte rendu de: Nathalie Bouloux, Jean-Charles Ducène (dir.), Territoires, régions, royaumes. Le développement d’une cartographie locale et régionale dans l’Occident latin et le monde arabe (Xe–XVe siècle), Turnhout (Brepols) 2023, 302 p., 5 ill. en n/b, 72 en coul. (Culture et sociéte médievales, 40), ISBN 978-2-503-59390-6, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101276