Reform ist ein beliebter Grundbegriff der Mittelalterforschung. Seine nahezu totale Reichweite eröffnet lebensnahe Zugriffe auf viele Bereiche des geistlichen und weltlichen Lebens, ermöglicht gleichzeitig theoretische bzw. theologische Reflexionen – und überdies handelt es sich um einen quasi omnipräsenten Quellenbegriff. Oder doch nicht?
Das von Marie Dejoux initiierte Forschungsprojekt brachte Experten zu verschiedenen Kontexten der europäischen Geschichte, insbesondere des 13. bis 15. Jahrhunderts, dazu, nach der tatsächlichen Verwendung des Quellenbegriffs reformare mit seinen Ableitungen und parallelen Wortfamilien (corrigere, emendare, renovare, restaurare etc.) zu suchen. Das Ergebnis war fast einstimmig ernüchternd: Erst ab dem 12./13. Jahrhundert wird die Verwendung überhaupt spürbar – also lange nach der Gregorianischen Reform, eigentlich der Mutter aller Reformen; und auch dann bleibt das »Reformvokabular« in den diskutierten Bereichen jeweils sehr selten. Wenige signifikante Ausnahmen ergänzen das Bild: etwa die Zeit der Adelsfronde in England 1257–1268 (dazu Aude Mairey und Marie Dejoux), die enge Verbindung des Reformgedankens mit dem Selbstbewusstsein der kommunalen Eliten Italiens (Carole Mabboux), wo »reformieren« alsbald synonym zu »beschließen« verwendet und namensgebend für wichtige Ämter und Institutionen wurde. Auch in dem von Emilie Rosenblieh präsentierten Papstprozess des Basler Konzils, wo Reformverweigerung sogar zur Häresie werden konnte, ist die Bedeutung der Reformidee nicht zu verleugnen. Es bleibt das einzige hier untersuchte Beispiel aus der geistigen Sphäre in dem ansonsten auf weltliche Legislation und Administration fokussierten Band.
Methodisch demonstriert das Buch die bewundernswerte Vertrautheit der französischen Mediävistik mit mathematisch-statistischen Verfahren. Der quantitative Zugriff auf die teilweise sehr umfangreichen und meist digitalisiert verfügbaren Textcorpora dominiert. Statische Methoden wie die linguistische Taxometrie, Faktorenanalyse oder die Alceste-Methode produzieren nicht nur Tabellen und Schaubilder, sondern auch komplexe Graphen und Diagramme, die sich dem ungeübten Geisteswissenschaftler nicht so leicht erschließen, wie die ansonsten brillante conclusion von Claude Gauvard suggeriert. Dekonstruktion und Relativierung scheinen im Mittelpunkt zu stehen, dennoch entwirft der Band auch neue Erzählungen: Das Reformparadigma ergriff im 19. Jahrhundert gleichzeitig Gesellschaft und Historiografie, so Gisela Naegle mit dem Fokus auf die deutsche Historiografie zur Reichsreform und auch Nicolas Perreaux anhand einer statistischen Auswertung des RI-OPAC.
Perreaux setzt in seinem langen Portalaufsatz überhaupt den methodischen wie inhaltlichen Maßstab: Seine Analyse des früh- und hochmittelalterlichen Gebrauchs von Reformbegriffen anhand der großen digitalisierten Corpora, besonders der »Patrologia latina« und der Urkundensammlung »CEMA« (»Cartae Europae Medii Aevi«) liefert frappierende Befunde vom relativ spärlichen Auftauchen der als Reformlemmata ausgemachten Wortfamilien. Man wird vielleicht einwerfen dürfen, dass typische Reformtexte – von Visitationsakten bis zu Traktaten über den Fleischgenuss – eine durchaus geringere Überlieferungs- und erst recht Digitalisierungschance haben dürften und damit für die hier praktizierte Lexikometrie unerreichbar sind. Rosenbliehs Prozessakten warten ja auch seit langer Zeit auf die nun einmal mehr verheißungsvoll angekündigte Edition. Und die bereits sehr gut digital verfügbaren Synodalstatuten (siehe das »Corpus Synodalium«), eigentlich ein Reservoir des Reformgedankens, werden gar nicht berücksichtigt.
Regionale Schwerpunkte des Bandes sind vor allem Frankreich, England, Italien und die spanischen Reiche. Die Beiträge befassen sich schwerpunktmäßig mit dem 13. und 14., seltener auch mit dem 15. Jahrhundert. Trotz der mehrfach konstatierten Seltenheit des Reformvokabulars werden durchaus Konjunkturen, Entwicklungen und Transformationen beschrieben: In Frankreich setzte sich die Reformrhetorik später als in England durch (Marie Dejoux), doch auch dort erschien sie nach der Adelsrevolte gegen Heinrich III. nur noch selten, meist im ökonomischen Kontext (Aude Marey). Mehrfach thematisiert werden Einflüsse der geistlichen Sphäre auf die weltliche Administration: Bald nachdem der Reformgedanke unter Innozenz III. in die päpstliche Standardrhetorik integriert worden war und erst recht nach den Auseinandersetzungen mit Bonifaz VIII. wurde das Reformvokabular auch in Frankreich einflussreicher. Häufig wird auch die Verbindung von Reform- und Friedensgedanken konstatiert, so in Aragon (Alexandra Beauchamps), wo die Etablierung der Ständeversammlungen auch von der Gottesfriedensbewegung befeuert wurde.
Reformvokabular wurde insbesondere in Konfliktsituationen aktiviert, wenn es auf die theologische Überhöhung des Regierungshandelns ankam. Sie sind mithin häufiger Bestandteil von Präambeln der Gesetzestexte, selbst in Kastilien, wo das Lemma reform* ansonsten eigentlich unauffindbar scheint (François Foronda). Große Reformordonnanzen reagieren auf die Klagen der Stände (Gaëtan Bonnot). Analog zu geistlichen Visitatoren in Orden und Pfarreien traten königliche oder fürstliche Untersuchungskommissionen auf (Anne Lemonde für die Dauphiné).
Mehrfach thematisiert wird auch die sich wandelnde Ideenwelt hinter dem Reformbegriff: Das seit den Kirchenvätern hiermit verbundene Streben nach Christiformitas ging nie ganz verloren, wurde aber ab dem Hochmittelalter um eine administrativ-organisatorische Bedeutungsebene ergänzt. Mehrfach festgestellt wird die Sehnsucht nach einem »goldenen Zeitalter«, das aber meist nicht konkret in Zeit und Raum verortet wird, sondern einen abstrakten Idealzustand verkörpert – so bei den von Amable Sablon du Corail untersuchten Bemühungen um die Reduktion der Zahl der königlichen Amtsträger, dessen Beitrag sich als einziger einem konkreten Reformanliegen widmet.
Überhaupt scheint diese handlungsorientierte, praxisnahe Dimension des Reformdiskurses von den quantifizierenden Methoden eher ausgeblendet zu werden. Die schiere Seltenheit des Lemmas reform* verzerrt das Bild, wenn die wenigen Treffer in Präambeln und Überschriften liegen, jedoch der Hauptteil des Textes sich der konkreten Diskussion von Missständen widmet und dabei ohne die als Signalwörter verzeichneten Reformbegriffe auskommt. Wenn Emilie Rosenblieh in der großen Verteidigungsrede des Johannes von Segovia vom August 1439 für die unter massiver Heranziehung der Reformidee erfolgte Papstabsetzung gerade einmal 13 Treffer auf zehn eng beschriebenen Folioseiten feststellt, stößt die Evidenz der statistischen Methoden an ihre Grenzen. Reform war weniger konzeptioneller Weltentwurf als ein Ringen um konkrete Handlungen und die Ausgestaltung alltäglicher Lebenswirklichkeiten. Die Grundfrage des Bandes, »Quels sont les mots pour dire réforme?«, ist mit den untersuchten Wortfamilien um die Verben reformare, emendare, corrigere, reparare, renovare, recuperare, restituere usw. nicht hinreichend beantwortet, wenn die Sachgegenstände außer Acht bleiben.
Insgesamt zeichnet den Band ein sehr klares Konzept und eine enorme inhaltliche und methodische Kohärenz aus. Im Strom der derzeit exponentiell anwachsenden Historiografie zur Reformidee des Mittelalters wird er einen herausragenden Platz einnehmen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Woelki, Rezension von/compte rendu de: Marie Dejoux (dir.), Reformatio? Les mots pour dire la réforme au Moyen Âge, Paris (Publications de la Sorbonne) 2023, 314 p. (Histoire ancienne et médiévale, 192), ISBN 979-10-351-0882-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101281