Am Ende der Besprechung eines von Nicolas Drocourt herausgegebenen Tagungsbandes aus dem Jahr 2020 schrieb der Rezensent der hier vorliegenden Publikation: »Das Dictum von Dimitri Obolensky aus dem Jahr 1961 ›la diplomatie byzantine attend encore son historien‹ bleibt weiterhin gültig, und Kolloquiumsbände können allenfalls Gedanken und Anregungen vermitteln, da es eines stringenten Konzepts bedarf, nicht hübscher Mosaiksteinchen«.
Das hier zu besprechende Werk hat diese Forderung nun in jeder Hinsicht erfüllt. Nicolas Drocourt, in der byzantinistischen Schule von Alain Ducellier in Toulouse ausgebildet und derzeit maître de conférences an der Universität Rennes, ist sicher der am besten ausgewiesene Kenner der byzantinischen Diplomatie. Er ist, neben zahlreichen einschlägigen Artikeln, besonders mit einer 2015 erschienen umfangreichen Untersuchung zu byzantinischen Gesandten zwischen 640 und 1204 hervorgetreten.
Der Titel des Buches erinnert an Herbert Hungers »Reich der Neuen Mitte« (1965), doch dachte Drocourt wohl eher an das chinesische Reich, das (wie Karl Krumbacher es schon gesehen hat) im byzantinischen Reich viele Parallelen findet, gerade hinsichtlich Diplomatie, Hofkultur und Zeremoniell. Das Jahr 1204, mit dem die Darstellung endet, ist gerade im Bereich der Staatlichkeit ein wichtiger Einschnitt. Nach 1204 (bzw. 1261) beginnt ein anderer Staat, der von der Tradition der eigenen Vergangenheit lebt und unter diesem Aspekt auch von den übrigen Staaten gesehen und oftmals auch nach wie vor bewundert wird, selbst aber nicht mehr in der früheren Weise handeln kann und deshalb auch seine Diplomatie den neuen Gegebenheiten anpasst.
Formal ist der Band ausgezeichnet strukturiert und erlaubt eine größtmögliche Erfassung aller Phänomene, auf denen die Diplomatie aufbaut und die sie in der Praxis zum Ausdruck bringt.
Der Autor ist mit den griechischen, lateinischen und arabischen (in Übersetzung) Quellen sowie mit der international weit verbreiteten Sekundärliteratur bestens vertraut, und es gelingt ihm, daraus eine flüssige und stilistisch gut lesbare Darstellung zu machen, die in (nie zu langen) Anmerkungen bestens dokumentiert wird. Alle Hinweise sind chronologisch präzise belegt. Da aus dem Untersuchungszeitraum keine griechischen Gesandtschaftsberichte vorliegen, stützt sich die Darstellung überwiegend auf narrative Quellen, begleitet vom Leitfaden des Zeremonienbuches und Briefsammlungen einzelner Gesandter. In jedem Kapitel sind viele Kleinigkeiten gesammelt, die dann, zusammengenommen, ein jeweils mehr oder weniger vollständiges Gesamtbild ergeben.
Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert, die wiederum in fortlaufend nummerierte Unterkapitel unterteilt sind, ein Prinzip, das etwas verwirrend wirkt, zumal Abschnittstitel und Unterkapitel bisweilen (fast) gleich lauten.
I. »Idéologie impériale face aux réalités« mit drei Unterkapiteln zur Kaiserideologie als Grundlage des Staates, der darauf begründeten Superiorität und den Grenzen, die in der Praxis gegeben sind. In diesen Kapiteln ist die ideologische Quintessenz der byzantinischen Diplomatie niedergelegt. Es geht aber auch um die ideologischen Grundlagen von Krieg und Frieden, besonders um den Krieg als einer nicht ungewünschten Realität des staatlichen Lebens, ein Kapitel, aus dem die Gegenwart von Byzanz lernen könnte. In einem weiteren Schwerpunkt geht der Verfasser auf politische Theorien ein, die in Titelfragen und Titelbezeichnungen, mit denen Diplomaten immer konfrontiert waren (und es noch sind), ihren Ausdruck finden. Der Abschnitt beschäftigt sich schließlich sehr ausführlich mit dem »Außenministerium« (dem sekreton tu dromu), das dem Kaiser besonders nahesteht. Der Leser erfährt über die Ernennung der Gesandten, Fragen des sprachlichen Verständnisses (Dolmetscher, Übersetzer), Formen der Verträge und vieles andere mehr, also Sachwissen zu Basis und Ergebnissen der diplomatischen Tätigkeit.
II. »Tractations, armes et acteurs de la diplomatie«. Wir erfahren in den Quellen selbst wenig über die Verhandlungen, die hinter den Mauern des Palastes oder oft auch an den Grenzen oder im Ausland stattfanden, da sie der Geheimhaltung unterworfen waren. Der Verfasser trägt viel Material zusammen über geopolitische Fragen der Grenzfestlegungen, über Gefangenenaustausch und die Rolle von Spionen und Überläufern. Erstaunlich schweigsam sind die Aussagen in den Vereinbarungen über Handel und Wirtschaft. Dazu geben auch (und gerade) die Chrysobulle (Auslandsverträge) wenig Auskunft und erwähnen nur recht sparsam Einzelheiten zu den Gütern, die den nur selten noch vorhandenen Protokollen (z. B. mit Pisa und Genua im 12. Jahrhundert) anvertraut wurden. Etwas besser sind unsere Kenntnisse zu Forderungen wie Tributen, Vergabe von Würden und den damit verbundenen Geldleistungen. Es zeigt sich, dass Geld die Hauptwaffe der Diplomatie war, ebenso wie die Luxusgeschenke, zu denen in letzter Zeit (vor allem aus arabischen Quellen) auch richtiggehende Listen publiziert wurden, aus denen in Anzahl und Qualität eine Parität der Geschenke hervorgeht. Ein wichtiges Mittel der Kriegs- und Friedensdiplomatie waren dann auch Eheschließungen auf verschiedenen Ebenen, mehr als 80 zwischen dem 7. Jahrhundert und 1204. Das umfangreichste Kapitel dieses Abschnittes beschäftigt sich mit der Person des Botschafters und dessen Umfeld. Die Rezension kann nur in Stichworten die Reichhaltigkeit dieses Kapitels erfassen: Zahlenangaben zu den Botschaften, die Auswahl der Botschafter aus den Eliteschichten des Hofes, ihre Nähe zum Kaiser, intellektuelle Bildung, sprachliche Kenntnisse (die vor allem auf der Rhetorik der griechischen Muttersprache beruhten), Vollmachten, Rechte (Immunität). Ich finde leider keine Altersangaben zu den meist namentlich bekannten Führern der Botschaften, obwohl dafür die »Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit« Hinweise gäbe. Der Verfasser geht auch auf die Zusammensetzung der Gesandtschaften ein. Dabei spielt, je nach dem Adressaten, auch die Teilnahme von (hohen) Klerikern (Metropoliten, Patriarchalklerus) eine wichtige Rolle. Auch auf die Funktion von Frauen im Umfeld der Gesandtschaften geht der Verfasser ein, wenngleich hierzu die Quellenhinweise sehr bescheiden sind.
III. »Des fastes du cérémonial aux réalités de la guerre« lautet der Titel des dritten Abschnitts, in dem sich das Kapitel V (der durchlaufenden Zählung folgend) mit der Bedeutung der zeremoniellen Rolle des Hofes für die Diplomatie beschäftigt. Mehr als bei anderen Kapiteln kann der Verfasser hier aus der Fülle des Materials schöpfen (Empfang, Bankette, Rangordnungen, Unterkünfte, Präsentation in der Stadt). In einem letzten Kapitel (VI) kommt der Verfasser wieder auf zentrale Aufgaben der diplomatischen Tätigkeit zurück, vielleicht sogar auf die zentralste: die Kriegsdiplomatik, die auch immer wieder eine Überlebensfrage des Staates darstellte. Drei Grundmaximen kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu: der Suche nach Alliierten im Rücken der Feinde, der Unterstützung probyzantinischer Gruppierungen im Feindesland und der Vermeidung von Zweifrontenkriegen. Als Material werden nicht nur die großen internationalen Vereinbarungen herangezogen, sondern auch die Diplomatie an den Grenzen (Araber, Bulgaren und besonders die kaukasischen Völker) ebenso wie eine ad-hoc Diplomatie an den Kriegsfronten mit Beispielen aus einer intensiven Quellenlektüre.
Einige Schlußbemerkungen fassen zusammen, was die Charakteristika der byzantinischen Diplomatie ausmachen: Anpassung durch umfangreiche und auch theoretische Information, der Glanz der Hauptstadt und das luxuriöse Ambiente des Kaiserpalastes, Prestige und Autorität eines Kaisertums aus langer Tradition (mit besonderer Betonung des Römerbegriffs) und nicht zum wenigsten der zur Schau gestellte Reichtum, die »Gelddiplomatie«. All dies sind Erscheinungsformen eines Staates, die seit dessen Neuerrichtung (1261) fehlen oder ganz anders geartet sind.
Der Rezensent kann mit Genugtuung feststellen, dass hier ein Band vorliegt, der die Anliegen der byzantinistischen Forschung voll erfüllen kann. Ein Verzeichnis der Eigennamen, der Völker und Orte ist selbstverständlich beigegeben; ein Register der Begriffe, das in diesem Bereich nicht leicht zu erstellen ist, fehlt allerdings, doch helfen die vielen gliedernden Überschriften bei der Suche nach Termini weiter. Schließlich ist gerade dieses Buch zum Durchlesen geschaffen, nicht nur zum gelegentlichen Nachschlagen. Seine Lektüre bereitet keine Mühe und sei nachdrücklich all jenen empfohlen, die mit der byzantinischen und der sie umgebenden Welt zu tun haben: der Islamwissenschaft, der Südost- und Osteuropaforschung, der Kunstgeschichte und nicht zuletzt der gesamten Mittelalterforschung. Eine Weiterführung der Thematik in die spätbyzantinische Zeit hinein, in der alte ideologische und ganz veränderte politische Voraussetzungen zusammentreffen, wäre ein wünschenswertes Unterfangen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schreiner, Rezension von/compte rendu de: Nicolas Drocourt, L’autre Empire du Milieu. La diplomatie byzantine (VIIe–XIIe siècles), Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 308 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-8861-5, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101283