Vor vier Jahren erschien an dieser Stelle die Rezension des dem Mittelalter gewidmeten zweiten Bandes einer vierbändigen Serie mit dem Gesamttitel »The Sea in History«. Unter der Verantwortung von Michel Balard haben auf mehr als 1000 Seiten 73 Autoren das Meer unter den verschiedensten Gesichtspunkten behandelt. Auch der hier zur Besprechung anstehende Band ist Teil einer Gesamtreihe in sechs Bänden, allerdings von weitaus geringerem Umfang, der die Fragestellung ebenfalls von der Antike bis in die Gegenwart führt. Beide Darstellungen haben eine Behandlung aller Weltmeere zum Ziel, sodass bisweilen ein Vergleich angebracht wäre, obwohl im hier vorliegenden Band der erstgenannte kaum erwähnt wird.
Die »Cultural History« versucht schon vom Titel und den Berufsfeldern der Mitarbeiter her andere Wege zu gehen: ein Fachmann der Tierarchäologie, eine Literaturwissenschaftlerin, eine Spezialistin für »Material History«, eine Mittelostforscherin, ein Osteuropa- und Byzanzhistoriker, ein Gewässerforscher und Geograf, ein Erforscher der Navigationsgeschichte, ein Kartografiespezialist und eine Archäologin. Diese Arbeitsschwerpunkte gaben der Herausgeberin (Elizabeth A. Lambourn, die selbst zur materiellen Geschichte Südasiens arbeitet) Gewähr, dass man die Thematik unter dem Gesamttitel einer »Kulturgeschichte des Meeres«, die, soweit ich sehe, ein Novum darstellt, zusammenfassen kann. Ein Versuch, »Kulturgeschichte« genauer zu definieren und besonders in Hinblick auf das Meer zu präzisieren, wurde auch in narrativer Form nicht versucht, von Definitionen ganz zu schweigen. Am nächsten kommt einem Hinweis in diese Richtung noch die Aussage, dass es Aufgabe der Reihe sei, »[to] think science and humanities together« (S. XI). Diese Feststellung bezieht sich jedoch eher auf die angewandten Methoden, der Zusammenschau von Natur- und Geisteswissenschaften, wobei die Beitragenden immer einer der beiden Richtungen angehören und ihre Darstellung auf das eigene Arbeitsfeld konzentrieren. In der Gesamtschau aller Beiträge wird das gewünschte Ziel aber durchaus sichtbar. Vielen Beiträgen ist darüber hinaus ein ethnografischer Schwerpunkt eigen, der aus heutiger Sicht ein Bestandteil der Kulturgeschichte ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die »Cultural History« von »The Sea in History«, die als historisch ausgerichtet im bekannten Sinn bezeichnet werden kann. Beide Reihen zielen auf eine globale Sichtweise ab, die aber in der »Cultural History« noch wesentlich stärker ausgeprägt ist, doch in Einzelfällen die europäischen Meere kaum oder überhaupt nicht miteinbezieht.
Das Buch ist in acht Sachbegriffe, als Kapitel bezeichnet, unterteilt, welche die wichtigsten Gesichtspunkte einer globalen Meeresforschung abdecken sollen. Auch den Autoren bereitet der Begriff »Medieval Age« immer wieder Schwierigkeiten, weil in den verschiedenen Regionen die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung nicht mit der europäischen Mittelaltervorstellung, die inzwischen als solche immer stärker in Frage gestellt wird, parallel gesehen werden kann. Der (an keiner Stelle chronologisch genauer umrissene) europäische Mittelalterbegriff (600/800–um 1500) scheint als zeitliche Grenze hinter allen Beiträgen zu stehen, aber es zeigen sich immer wieder chronologische Unschärfen, als Folge einer »globalen« Geschichtsforschung.
I. »Knowledges« (Eric Staples) gibt eine Übersicht über Schiffskonstruktionen, Wegfindung, Bedeutung und Kenntnis der Winde, Sternberechnungen, Kompass, und verweist auf schriftlich nicht niedergelegte Kennnisse aus der Praxis. Letztlich zeigt sich, was der Autor aber nicht präzise sagt, dass alles, was zu diesem Bereich berichtet werden kann, aus dem Gebiet Europas, der arabischen Welt und China stammt. Das ist kaum eine besonders neue Erkenntnis.
II. »Practices« (St. Wynne-Jones, J. Harland). Der Beitrag vergleicht Praktiken des Fischfangs im Indischen Ozean und im Nordatlantik »through the medieval period«. Er ist ethnologisch orientiert hinsichtlich der sozialen Organisation des Fischfangs. Das Mittelmeer, das hier viele verschiedenartigste Quellen und Informationen böte, bleibt unberücksichtigt.
III. »Networks« (mit dem Untertitel »Thicker and Quicker by Water«). Der bekannte Osteuropa- und Byzanzhistoriker Jonathan Shepard behandelt in vielen Einzelheiten die Verbindungen des russischen Wassernetzes mit den angrenzenden Meeren. Der hervorragend recherchierte Artikel ist aber angefüllt mit Minidetails, die man nur mit Rückgriff auf die entsprechende Literatur einordnen kann, wie etwa die Auswertung des Serçe-Limani-Schiffswracks, die eine Lektüre des zugehörigen Werkes verlangt. Diese Details zeigen zwar das zugrundeliegende Netzwerk, machen aber den Zweck (und das Zustandekommen) der Argumentation wegen der verkürzten Darstellungsform nur mühsam verständlich. Die spätbyzantinischen genuesischen Netzwerke und das portugiesisch atlantische sind aus Platzgründen noch knapper gefasst (dem Motto »nur nichts weglassen« folgend), sodass ihr Informationswert fraglich bleibt.
IV. »Conflicts« (E. Lambourn) sind, den Forschungen der Verfasserin folgend, am Beispiel des westlichen indischen Ozeans abgehandelt, sodass die globalen Bestrebungen des Bandes auch hier recht eingeschränkt bleiben. Man erwartet eine begriffliche Analyse, die sich vielleicht aber aus einem so begrenzten geografischen Raum heraus überhaupt nicht entwickeln lässt. Die bibliografischen Belege sind überbordend, doch durch bloße Titel werden die Zusammenhänge nicht evident.
V. »Islands and Shore« (R. Margariti). Der Beitrag hat die auch in anderen vergleichbaren Titeln geäußerte Beobachtung der Begrenzung des Meeres sowie der Nahtstellen zwischen Meer und Land zum Inhalt. Der Beitrag hätte sehr an Schärfe gewonnen, wenn der Autor den magistralen Aufsatz von Sebastian Kolditz in einem ebenfalls dem Meer gewidmeten Sammelwerk gekannt hätte (Horizonte maritimer Konnektivität, in: Maritimes Mittelalter, Ostfildern 2016). An diesem Beispiel (aber auch anderswo innerhalb dieses Bandes) zeigt sich, dass die Ausweitung der Zusammenhänge zwischen Meer und Land auf den gesamten Erdkreis eher Verwirrung stiftet.
VI. »Travelers. Texts and Contexts« (Sh. Kinoshita). Der Beitrag stützt sich fast ausschließlich auf literarische Quellen und stellt eher die Psyche der Seefahrer in den Mittelpunkt. Die Autorin verfügt über eine beeindruckende Kenntnis literarischer Beispiele, vornehmlich aus dem abendländischen und arabischen Bereich, die mir, vielleicht nicht ganz der Intention der Autorin entsprechend, zeigen, dass Unterschiede in der Mentalität kaum existieren. Der geringe zur Verfügung stehende Raum erlaubte es aber auch nicht, irgendwelche Gesichtspunkte exemplarisch auszuarbeiten (so versucht im Rahmen eines Fallbeispiels zu den Reisegeschichten im »Decamerone«).
VII. »Representations. Painting, Mapping. Reinventing the Seas of the World« (E. Vagnon). Ein enzyklopädisches Thema muss hier auf 30 Seiten durchgepeitscht werden, zumal die Autorin auch die ostasiatische Welt miteinbezieht, um dem globalen Charakter des Buches gerecht zu werden. Sie legt den Schwerpunkt auf Karten, zu denen treffend (aber nicht ganz neu) bemerkt wird (S. 194), dass sich die menschliche Gesellschaft mittels der Karten, besonders der Seekarten, eine Vorstellung der Welt erarbeitet, nach Regionen differenziert und mit Namen benannt habe. Der Verfasserin waren leider die digitale Edition der Karte des Fra Mauro durch Andrea Nanetti sowie ein grundlegender Beitrag desselben Autors zu Seekarten (Waterways Connecting the Peoples of the World, in: Venezia e il senso del mare, Venezia 2023, S. 161–240) noch nicht zugänglich.
VIII. »Imaginery Worlds« (J. L. Smith). Die fiktive Geografie hat bisher in Darstellungen zur Geschichte der Meere kaum Beachtung gefunden. Der vorliegende Artikel ist allerdings kaum mehr als eine bibliographie résumée, die auch asiatische und ozeanische Regionen umfasst und zu einer wirklichen Darstellung nur Rohmaterial liefert.
Der vorliegende Band zur Kulturgeschichte des Meeres im Mittelalter stellt zwar eine gewisse Erweiterung unserer Sicht dar und kann die mehrfach genannte Reihe »The Sea in History« ergänzen, ist aber großenteils nur eine bibliografische Hilfe zur eigenen Weiterarbeit. Das gebotene Bildmaterial (gezeichnete Karten oder Nachzeichnungen ausgenommen) ist überwiegend schlecht und im Maßstab zu klein. Die Anmerkungen bleiben auf bibliografische Mini-Siglen beschränkt und erlauben keine Erklärungen, Ergänzungen oder Wertungen.
Unser Weltglobus ist letztlich doch ziemlich groß, besonders wenn er einen Zeitraum von 800 Jahren umschließen soll. Wenn man globale Geschichte schreiben will, ist das geistige Kleinformat nicht angebracht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schreiner, Rezension von/compte rendu de: Elizabeth A. Lambourn (ed.), A Cultural History of the Sea in the Medieval Age, London, New Delhi, New York, Sydney (Bloomsbury Academic) 2023, 280 p. (A Cultural History of the Sea, 2), ISBN 978-1-4742-9902-2, GBP 67,50., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101288