Kein anderer politischer Traktat des Mittelalters als der »Defensor pacis« [künftig: »DP«] des Marsilius von Padua [MvP] vermag heute so viele Untersuchungen anzuregen, keiner findet so wie er immer erneut das Interesse von Fachleuten, die die Ergebnisse ihrer Bemühungen dann gemeinsam publizieren. Wieder liegt jetzt ein stattlicher Band vor, der auf ein Colloquium in Löwen (vom Juli 2018) verweist. Versammelt sind Beiträge vorwiegend jüngerer Gelehrter, jeweils durch eigene Bibliografien für ein mögliches »Separatum« des einzelnen Beitrags vorbereitet, was jedoch den Leser häufig mit gleichen Nachweisen konfrontiert. Ein Sammelverzeichnis mehrfach benutzter Titel hätte gewiss einigen Platz gespart! Die 15 Beiträge des Bandes in der (offenbar) vorwiegend für den US-amerikanischen Markt bestimmten Reihe sind alle in englischer Sprache gehalten, meist werden auch entferntere Belege aus der Patristik, aus Bernhard von Clairvaux oder der Scholastik, in Ausnahmefällen sogar aus dem »DP« selbst ausschließlich nach englischen Übersetzungen zitiert. »While the series is directed to an international audience, the primary language of publication is English«, so beschönigend der Buchumschlag. Eine Präsentation der Konferenz in verschiedenen international verständlichen Idiomen wäre doch wohl vorzuziehen.

Für das Zustandekommen der Tagung und die Drucklegung verantwortlich war Alessandro Mulieri, der zusammen mit Serena Masolini und Jenny Pelletier jetzt als Herausgeber des Buches erscheint. In einer »Introduction« (S. 9–28) sucht A. Mulieri einen roten Faden im Gesamtaufriss des Buchs. Sein Bericht über die Wahl Ludwigs des Bayern zum deutschen Herrscher (rex Romanorum) hätte jedoch nicht unkorrigiert durch die Kontrollen rutschen dürfen: dort ist zu lesen (S. 9): Ludwig »was elected emperor [!] in Bavaria [!] from among five of the eight [!] elector princes and had to face the other claimant to the imperial [!] throne, Frederick von Aubsburg [sic!], who was appointed [!] by the three [!] remaining [!] electors«. Das ist mehrfach irreführend: Im Mittelalter hat es nie mehr als sieben Kurfürsten gegeben (vgl. auch z. B. »DP« II.xvi.5), es war allerdings bisweilen umstritten, wer von einer Fürstenfamilie oder für ein Herrschaftsgebiet eine »Kurstimme« führen durfte: Am 19. Oktober 1314 wählte in Sachsenhausen (vor Frankfurt/Main) eine Partei (bestehend aus dem Erzbischof von Köln, Pfalzgrafen bei Rhein, Herzog von Sachsen-Wittenberg und [vertriebenem] König von Böhmen [Heinrich von Kärnten], d. h. mit vier »Kurstimmen«, der Mehrheit der Siebenzahl) den Habsburger (!) Herzog Friedrich »den Schönen« von Österreich zum römischen König (!); am Tag darauf wählte in Frankfurt (auf der anderen Seite des Rheins) eine andere Partei mit fünf Kurstimmen (der Erzbischöfe von Mainz und von Trier, des [aktuellen] Königs von Böhmen Johann von Luxemburg, des Markgrafen von Brandenburg und des Herzogs von Sachsen-Lauenburg) den Wittelsbacher Herzog von Oberbayern Ludwig zum rex Romanorum (später von der Kurie auch in offiziellen Schreiben Ludovicus Bavarus benannt). Bei beiden Wahlakten waren also Kurstimmen strittig (Böhmen, Sachsen), doch war eine Mehrheitsentscheidung des Kollegs (bis zur »Goldenen Bulle« 1356) ohnehin noch nicht allgemein anerkannt. Die letzte Entscheidung zwischen beiden »Gewählten« musste in einem Bürgerkrieg gesucht und 1322 in einer Schlacht gefunden werden.

15 Beiträge reihen sich, gegliedert in drei (schon im Untertitel genannte) Teile (»parts«): I. »Methodisch wissenschaftliche Traditionen im ›DP‹ (›History‹)«, II. »Politikverständnis (›Politics‹)«, III. »Politiktheoretische Voraussetzungen und Folgen (›Philosophy‹)«, ohne dass etwa thematische Nahbeziehungen zwischen jetzt voneinander räumlich getrennten Abhandlungen fehlen. Zu Beginn steht eine straffe luzide Darlegung (S. 31–48), in der Roberto Lambertini erklärt, wie sich Marsilius im »DP« als Leser der »Politica« des Aristoteles präsentiert, welche Textgrundlage sichtbar wird und wie der »Aristotelismus« des Marsilius aus dieser Perspektive begründet ist.

Marco Toste wird später (S. 75–102) zeigen, dass Prinzipien der aristotelischen »Politik« nach dem (von ihm 2022 selbst edierten) Pariser Quästionenkommentar des Peter von Auvergne für die Theoriebildung des Marsilius höchstwahrscheinlich die (im »DP« durch explizite Zitate entsprechender Aristotelestexte auch ausdrücklich anerkannte) Basis bildeten. Das wird insbesondere an der Erörterung der Herrschaftssukzession (»DP« I.xiv) und an der »organic analogy« des »body politic« aufgewiesen, was MvP wiederum (wie seine hier genannte Vorlage) aus des Aristoteles’ »Politica«, nicht aus medizinischen Autoritäten herleitet (die aber heute meist herangezogen werden).

Gert-Jan Van der Voorde geht zunächst (S. 49–74) den Traditionen nach, die seit Augustin die nach dem Zeugnis des Neuen Testaments klare Ableugnung eigener weltlicher Herrschaft durch Jesus selbst im Verhör durch Pilatus bekundet sehen, was später, eingeordnet hier am Ende des II. Teils des Programms (S. 285‑320), noch einmal von David Lloyd Dusenberg mit vergleichendem Blick auf den von Dante kritisierten gran rifiuto (»Inferno« III, S. 56‑60) auf dem Hintergrund seiner 2021 veröffentlichten Dissertation aufgegriffen wird.

Iacopo Costa analysiert (S. 103–122) im Vergleich zur scholastischen Theologie (bes. Thomas von Aquin) die Unterscheidung des MvP der durch menschliches Gesetz zwingend befohlenen »äußeren« Handlungen in einer politischen Einheit, die in seiner Definitionskette der scholastisch vorgeführten verschiedenen Bedeutungen des Wortes »Gesetz« als im politischen Verband wirksam nur als letzte übrig bleibt (»DP« I.x.4), während Kirche und Papst mit ihren ausschließlich für die innere Motivation von Menschen wirksamen »Geboten« und damit selbst Gottes Geboten (die im »DP« konsequent als monita, nicht als leges erscheinen) aus der Erörterung politisch wirksamer (mit zwingender irdischer Kompetenz erlassener) Gesetze ausgeschlossen bleiben. Somit regelt nach dem »DP« das »evangelische Gesetz« nicht mehr (wie das mosaische) mit dem rituellen Leben der Glaubensgemeinschaft zugleich auch das Leben des politischen Gemeinwesens. Kirche und Priester werden damit gewissermaßen zu einer moralischen Erziehungsanstalt (so mit Recht Jürgen Habermas, »Auch eine Geschichte der Philosophie«, 2019, Bd. 1, S. 866). Zwingende Bindekraft für alle »äußeren« Handlungen im politischen Verband kann also nach Marsilius auch ein göttliches Gebot nur durch eine ausdrückliche Übernahme dieser Verpflichtungen für die politische Gemeinschaft durch menschliche Gesetzgebung erreichen, d. h. es verlangt konkret den Erlass eines gültigen menschlichen Gesetzes durch den dazu allein kompetenten legislator humanus (zusammengefasst »DP« I.xvii.13).

Diesen I. Teil des Sammelbandes schließt A. Mulieri mit der Vorstellung der (wichtigen) Rolle einer »Collective Prudence« in dem komplexen Prozess einer bestmöglichen (staatlichen) Gesetzgebung. Seine Ausführungen – ebenso wie etwa auch der Beitrag von F. Deanini – hätten wohl an analytischer Schärfe und theoretischer Verständlichkeit gewonnen, wenn sie sich bereits auf die jetzt ebenfalls vorliegenden umfassenden Untersuchungen von Christian Rode hätten beziehen können (»Soziale Ontologien des Mittelalters, Der Status der politischen Gemeinschaft und das Mängelwesen Mensch«, 2022; für die inzwischen auch erschienenen Übersetzung ins Englische hat eine Mithrsg.in des vorliegenden Bandes eine Mitverantwortung übernommen: »The Reality of the Social World, Medieval, Early Modern and Contemporary Perspectives on Social Ontology«, English edition by Jean Pelletier & Chr. Rode, Münster 2023), da dort intensiv und in neuer Schärfe der Ausgleich aller Nachteile des einzelnen Mängelwesens Mensch im und durch den sozialen Verband im gesamten mittelalterlichen Diskussionszusammenhang erörtert wird, was den Zugriff des Marsilius neu plausibel macht.

In weiteren Abhandlungen des II. Teils werden andere Aspekte der politischen Theorie des »DP« erörtert und mit zeitgenössischen Konkurrenten und Diskutanten abgeglichen: Juhana Toivanen geht auf die komplexe Rolle der Emotionen im »DP« im Verhältnis zu vernünftigen Überlegungen ein (S. 149–178). Ferdinand Deanini greift die Frage auf (S. 179–196), welche Bedeutung Marsilius dem schon von Aristoteles als Ziel politischer Vergemeinschaftung angesetzten »guten Leben« (ευ ζην) in der Spannung zwischen Wohlleben und sittlich »gutem« oder sogar (religiös) »vollkommenem« Leben konkret zuschreibt (S. 179‑196). Gianluca Briguglia identifiziert erneut (S. 197–214) seine Auffassung des »DP« als eines Versuchs einer theoretischen Grundlegung der »ghibellinischen« Parteibildungen Oberitaliens (diese Überlegungen hätten sich auch in den III. Teil platzieren lassen!).

Weiter aus greift Charles W. Briggs, der die Aufrufe von Zeitgenossen des Marsilius, insbesondere von Dominikanern (doch auch von anderen Ordensleuten wie etwa Aegidius Romanus) vorstellt, in politischen Verbänden Frieden zu halten oder zu gewinnen (S. 215–252). Damit kann er ein breites lebhaftes Bild bewegter und bewegender Erörterungen, angefangen von Thomas von Aquin bis hin zu Remigio de’ Girolami entfalten, die allerdings meist Sicherung des Friedens im Rahmen der älteren Fürstenspiegeltradition durch Einschärfung ethischer Maximen suchen, nicht – wie es Marsilius allein schon durch den einzigartigen Titel seines »DP« klar macht und in dem Traktat selbst (in III.ii) an der Fülle möglicher Gegenmaßnahmen demonstriert – eine einzige Störung, nämlich die weltlichen Herrschaftsansprüche von Kirche und Papst wirksam ausmerzen wollen. Es gibt bei diesen Vergleichsstücken auch keinerlei vergleichbare, eine Aktivität herausfordernde Titelformulierung, vielmehr geht es dort dann etwa um »De bono communi« oder »De bono pacis«. All diese Texte haben ihren Platz also weit abseits des von Marsilius angezielten Schlachtfeldes. Sie rufen nicht zum Kampf auf, sondern zur Besinnung. Jacob Langeloh fragt schließlich nach dem Geschichtsverständnis des »DP« im Vergleich zu dem der Zeitgenossen Johannes Quidort und Dante (S. 253–284). Dabei setzt er sich insbesondere mit George Garnett (»Marsilius of Padua and the Truth of History, 2006) auseinander.

In einem III. Teil folgen noch vier Studien zum »Marsilian Moment«. Es bleibt bedauerlich, dass die Herausgeberinnen und der Herausgeber es versäumt haben, die Bedeutung dieses angelsächsischen Modewortes näher einzukreisen. Anscheinend soll es etwa »Schwung« und »Durchsetzungskraft« von Ideen, Programmen und Plänen bezeichnen, was in der Tat niemals allein von deren eigener Gestalt abhängig sein kann, sondern immer noch zusätzlich spezifisch förderliche Zeitumstände mitbezeichnet. Im Fall des »DP« und seiner (Fern-)Wirkungen in der Neuzeit bedeutet das, dass nicht einmal eine eigene Lektürekenntnis des Textes vorausgesetzt oder sogar nachgewiesen werden muss, um über ein »Momentum« des »DP« nachzudenken.

Schon im ersten Beitrag der Gruppe, angeboten von Serena Masolini, wird u. a. die Berufung des Tommaso Campanella († 1639) im Venedig des früheren 17. Jahrhunderts auf (oder vielmehr gegen) den »Ketzer« Marsilius ausdrücklich im Wissen davon behandelt, dass der »DP« dem Verfasser des Traktats nicht nachweislich durch eigene Lektüre bekannt war, Marsilius also nur ein Gespenst häretischer Verfehlung der Wahrheit war, wie gleichzeitig ebenso pauschal etwa auch Schriften von Luther oder Calvin ohne weiteres Argumentieren entschieden abgelehnt werden konnten (S. 323–358). Was das näher über die Wirkungsgeschichte des »DP« aussagen kann, blieb dem Rezensenten undeutlich.

Cary J. Nederman geht erneut auf den »Aristotelismus« des Marsilius ein (S. 359–382), der sich nach seinen Feststellungen so weit von dem genuinen Aristoteles entferne wie moderne amerikanische Politologen, welche sich selbst der Partei der »Rational Choice« zurechnen, bzw. jener Richtung, die vor allem das »Gemeinwohl« in den Blick nehmen will. Mit solcher durch moderne Fragestellungen geschärfter Aufmerksamkeit wird ein besseres Verständnis der Bedeutungsbreite mittelalterlicher Diskussionen angezielt.

Frank Godthardt führt einige Versuche aus den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts vor (S. 383–408), die im »DP« Vorbild und Anregungen für eine »revolutionäre« Umgestaltung der demokratischen Weimarer Verfassung zu einem nationalsozialistischen »Führerstaat« erkennen wollten. Er sammelt in seinem Beitrag Hinweise dafür, dass neben altbekannten ideologisch dem NS zugewandten Historikern (wie Friedrich Bock) auch etwa der Leipziger Gelehrte Richard Scholz (dem die eine der beiden kritischen Ausgaben des »DP« von 1932–1933 zu verdanken ist und der bis in die 30er-Jahre hinein keinerlei NS-Programmatik aus diesem Text abgeleitet hatte) und dann auch der an der Universität Leipzig bzw. Straßburg für das Mittelalter zuständige Hermann Heimpel (beide, Heimpel und Scholz haben in der Mitte der 30er‑Jahre erfolgreich bei den »Monumenta Germaniae historica« eine neue Abteilung »Staatsschriften des späteren Mittelalters« beantragt, die bis heute ihre Bedeutung behalten hat) sich wenig später allerdings vorsichtig an diesen verfehlten Aktualisierungen der Wirkungsabsichten eines mittelalterlichen Traktats beteiligten, ohne dass das bis heute allgemein zur Kenntnis genommen wurde. Godthardt möchte verdeutlichen, dass Marsilius zwar durch seine »offene« Theorie weltlicher sozialer Organisation für alle verschiedenen Herrschaftsverfassungen seiner Zeit, die er aus eigener Erfahrung kannte bzw. später noch genauer kennenlernen sollte (d. h. für die italienischen Kommunen wie Padua, die europäischen Königreiche wie Frankreich oder England sowie auch das Reich des deutschen imperator Romanorum) den passenden Schlüssel zu einer »Verteidigung des Friedens« anbieten konnte, um damit für sie alle den schlimmsten politischen Schaden ihrer Gegenwart beseitigen zu können. Das aber könne keinesfalls die NS-Umbildung einer freiheitlichen Verfassung zu einem rigiden Führerstaat einschliessen oder sie sogar rechtfertigen.

Zum Schluss hat dann Gregorio Piaia den neuesten Gebrauch des »DP« am Beispiel vor allem des hier gründlich vorgeführten Rückgriffs von Umberto Eco auf MvP in seinem bekannten Bestseller »Il nome della rosa« als Exempel neuerer Anleihen beim »DP« noch einmal vor dem Hintergrund seiner eigenen wegweisenden Arbeiten zur neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des »DP« und zugleich mit einem intensiven persönlichen Erfahrungsbericht zu den »bleiernen Jahren« der italienischen Krise der 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts ausgeleuchtet und damit beides, den »DP« und die italienischen Wirren der Gegenwart, in einer das Verständnis des »DP« fördernden Weise vorgestellt (S. 409–430).

Der Sammelband, der sehr unterschiedliche Richtungen einer historischen Interpretation präsentiert, verdeutlicht erneut, wie lohnend eine Beschäftigung mit dem »DP« heute sein kann. Deutlich wird dabei auch, dass das Colloquium in Löwen sich seiner Pflicht nicht entzogen hat, Breite und Vielfalt der diskutierten Gesichtspunkte einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit ohne programmatische Verkürzungen vorzutragen. Die Zukunft muss zeigen, was davon in ihrer Gegenwart Bestand haben wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jürgen Miethke, Rezension von/compte rendu de: Alessandro Mulieri, Serena Masolini, Jenny Pelletier (ed.), Marsilius of Padua. Between History, Politics, and Philosophy, Turnhout (Brepols) 2023, 445 p. (Disputatio, 36), ISBN 978-2-503-60133-5, EUR 115,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101296