Der vorliegende Aufsatzband ist das Ergebnis einer 2019 veranstalteten Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte über ein junges, aber stetig wachsendes Untersuchungsfeld. Er bündelt aktuelle Tendenzen und Ergebnisse der mediävistischen Klangforschung, ohne angesichts der Fülle mittelalterlicher Klangphänomene sowie der Vielfalt an methodischen Zugängen einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

So definieren Nikolas Jaspert und Harald Müller in ihrer hinführenden Einleitung die akustische Welt als »eine von Menschen erfahrene und gestaltete Umwelt«, verborgen »in den noch wenig beachteten Kulissen historischer Ereignisse und ihrer Beschreibungen« (S. 15). Denn die Klänge der Vormoderne, wie die Herausgeber betonen, sind für uns verklungen, selbst in der überlieferten Musik(notation) nicht durchweg authentisch rekonstruierbar, sondern vielfach nur über spezifische zeitgenössische Diskurse zu erschließen. Die Perspektive einer Semantik der Klänge soll dazu beitragen, ein heuristisches Konzept mit praktikabler Terminologie zu etablieren, indem sie Wahrnehmungsmuster und Deutungsweisen längst vergangener Klangwelten beschreibt. Entsprechend entwirft Müller in einem eigenen Beitrag die Bausteine einer solchen Semantik, die sich auf die Hörerfahrung der Zeitgenossen einlassen will und beispielhaft anhand der Korrespondenz des Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer die Versprachlichung historischer Klänge zu fassen sucht.

Der gewählte Terminus »Klang« als Leitbegriff des Bandes bildet dabei ein breites Spektrum an Schallereignissen ab, die vom neutralen Geräusch oder störenden Lärm, über von Menschenhand erzeugte Töne bis hin zu musikalischen Klangordnungen reichen. Auch das Gegenstück zum Klang, die Stille, gehört in dieses Feld. Der favorisierte Begriff »Klangraum« (Soundscape) wiederum beschreibt einen multiperspektivischen, sowohl vom acoustic turn als auch spatial turn geprägten dynamischen Forschungsansatz, der die soziale Komponente im Sinne eines socially embodied space (S. 18) mit einbezieht und als konstituierend ansieht. Raum ist danach immer sozial konstruiert und manifestiert sich subjektbezogen in der rezipierenden Hörgemeinschaft.

Die Autorinnen und Autoren streben folglich keine musikarchäologische oder archäoakustische Rekonstruktion von Klangwelten im Sinne der Sound Studies an, sondern suchen vielmehr das Phänomen des Klangs in seinen diskursiven Strukturen und Zusammenhängen zu erfassen. Dieser spezifische Zugang umfasst die Analyse von Metatexten über das Hören, die Karl Kügle mit Boethius’ fundamentaler Schrift »De institutione musica« in der Definition von musica, sonus, vox und cantus eröffnet, die zeitgenössische Verortung des Hörsinns innerhalb des Spektrums sinnlicher Wahrnehmungen, aber auch die Bestimmung von Klangformen und deren Erzeuger. Klänge sind darüber hinaus als »Instrumente der sozialen, politischen und kulturellen Ordnung« definiert (Jaspert/Müller, S. 10), die auf Macht- und Herrschaftsstrukturen in der mittelalterlichen Gesellschaft verweisen. Auch die rechtliche Komponente findet in diesem Kontext Berücksichtigung, etwa in den Aufsätzen von Hiram Kümper über die Bedeutung und Funktion der Akustik in der mittelalterlichen Rechtskultur und Martina Giese über die akustische Dimension der mittelalterlichen Jagd als Ausdruck der monarchischen Repräsentation.

Die Analyse beschränkt sich nicht nur auf das abendländisch-lateinische Mittelalter, wie die Studie von Michael Grünbart über das Spannungsverhältnis von Stille und Lärm im byzantinischen Herrschaftszeremoniell zeigt. Der kontrastierende Einsatz von Klängen und Tönen im Innen- (Palast) und Außenraum (Hippodrom) entwickelte sich zum wirkungsmächtigen Ordnungsinstrument in der Kunst des Regierens. Insbesondere durch das Ideal der Stille in Verbindung mit der regungslos-statischen Inszenierung des Kaisers entstanden Autorität und Stabilität. Ein anderes Konzept der Stille ergibt sich für Mirko Breitenstein im klösterlichen Raum, in dem das Schweigen als empfohlene Tugend und Ideal der mittelalterlichen Vita religiosa galt. Die monastische Stille schuf eine spezifische, durch Ort, Raum und Zeit getaktete Soundscape, die paradoxerweise als verbindendes Kommunikationsmedium fungierte.

Die normierend-ordnende Funktion akustischer Praktiken lässt sich Pierre Monnet zufolge am sinnfälligsten an der mittelalterlichen Stadt aufzeigen, wobei die durch Trompeter, Stadtpfeifer, Nachtwächter, Turmbläser, Glocken und Gewerke erzeugten Geräusche vordergründig den Eindruck eines verwirrenden Klangchaos erwecken, tatsächlich aber im Sinne einer Strukturierung von Tagesabläufen, Ereignissen und Ritualen zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beitrugen.

Zwei Studien widmen sich der Übertragung von Klang in Bild und Text: Björn R. Tammen untersucht bildliche Darstellungen von Musik im kirchlichen Raum als zeichenhafte klangliche Manifestationen, allen voran die seit dem 14. Jahrhundert vor allem in Frankreich und Deutschland/Böhmen verbreiteten »Engelskonzerte« sowie die mit dem Siegeszug der franko-flämischen Vokalpolyphonie in Verbindung stehenden Kantoreibilder. Tammen zeigt, wie sich im Spätmittelalter ein ikonografisch-mediales Programm entfaltet, das institutionell definiert, was als »hörenswert« zu gelten habe. Jean-Marie Fritz beleuchtet das Verhältnis von Klanglandschaft und literarischer Gattung in den volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters, wobei der literarische Text onomatopoetisch als Partitur gelesen wird, der über verbale Beschreibungen (ekphrasis) bestimmte Klänge evoziert und reproduziert (mimesis).

Aufschlussreich und die Perspektive erweiternd ist der transkulturelle Vergleich mit den sozial-religiösen Sphären des Judentums und des Islam, der die interreligiöse akustische Verständigung verschiedener Glaubensgemeinschaften innerhalb bestimmter, durch Interaktionen gekennzeichneter Kulturräume belegt. Danach erfuhren die Klänge der jeweils Andersgläubigen sowohl religiöse als auch moralische und ästhetische Deutungen, die sogar Züge von Akzeptanz und Anerkennung erkennen lassen, wie Alexandra Cuffel am Beispiel religiöser und weltlicher Festivitäten auf der Iberischen Halbinsel (Corpus Christi; Juego de cañas) und im Nahen Osten (Nawrũz; Samã) aufzeigt. Nikolas Jaspert kann diese interreligiöse Kommunikation anhand akustischer Handlungsräume der muslimischen aljamas inmitten einer christlich dominierten Soundscape am Beispiel des Königreichs Valencia (1230-1500) quellenreich verdeutlichen.

Zweifellos liefern die gesammelten Studien, deren Ergebnisse Martin Clauss abschließend erhellend zusammenfasst, wichtige Impulse für zukünftige innovative Untersuchungen und Fragestellungen, wie die klanglich-musikalische Gestaltung des höfischen Festes oder die akustische Dimension mittelalterlicher Kriege.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Nikolas Jaspert, Harald Müller (Hg.), Klangräume des Mittelalters, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2023, 413 S., 17 farb. Abb. (Vorträge und Forschungen, 94), ISBN 978-3-7995-6895-1, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101299