Claire Gantet und Helmut Zedelmaier, Historiker des Traums und der Aufzeichnungssysteme der Frühen Neuzeit, fragen nach den Verbindungen, die zwischen Träumen und Lesen, einem »Natur-« und einem »Kulturprodukt« (S. 1), bestehen. Ihre Einleitung umreißt die seit der Antike bestehende »Verwandtschaft«; vier Blöcke stellen berühmte und unbekannte Akteure vor, mit einem Schwerpunkt auf dem »›langen‹ 18. Jahrhundert« (S. 367).

Vom Lesen zu träumen, treibt den Erwachten um. Aelius Aristides zeichnet im 2. Jahrhundert seine im Schlaf erhaltenen Rezepte und Gedichtanfänge auf Geheiß Äskulaps auf. Cardanus fragt nach dem »richtigen« Gebrauch seiner Träume, Augustinus konstatiert ihre »étrangété« (S. 35), Montaigne ihr Entgleiten. Béroalde de Verville (1556–1626), Rijklof Michael Van Goens (1748–1810), Hervey de Saint-Denys (1822–1892) u. a. erfahren die »multiplicité du moi« (S. 37), »l’âme qui sait et ne sait pas« (S. 39). Der Kreis schließt sich: »si le rêveur lit en rêve, le lecteur, lui, rêve en lisant« (S. 43, Florence Dumora). Jacques Sandoz (1664–1738), Notar und Perückenmacher bei Neuchâtel, protokolliert seine Träume in seinem Tagebuch (1693–1715) – Parallelen mit seinem Alltag, insbesondere Stresssituationen, werden kenntlich (Karine Crousaz). Frauen, die ihre Gefühle einem künftigen Ehemann gegenüber in Tagebüchern ausloten, halten sich an ihre Lektüre von »romans sentimentaux« (S. 72), trotz der Schäden, die Lesepropädeuten ihnen prognostizieren. Die dreizehnjährige Anna Barbara Schulthess (1765–1792) stellt einen Traum über ihren verstorbenen Vater an den Anfang ihres Tagebuchs; zwischen 1778 und 1786 ist der Musiker Philipp Christoph Kayser (1755–1823) in Traum und Tagebuch gleichermaßen präsent: »[…] c’est le moyen détourné de la relation de ses rêves qui lui permet, peut-être, d’exprimer sur le papier le lien fort et secret qu’elle perçoit entre elle et son jeune professeur de musique« (S. 83, Sylvie Moret Petrini). Der »Mercure galant«, ab 1724 »Mercure de France«, bietet zwischen 1673 und 1799 knapp 7000 »énigmes en vers« (S. 88). Die gereimten Texte entrücken die zu erratenden Gegenstände, Lesen, Lösen und Imaginieren werden eins (Timothée Léchot). Ähnlich spielerisch begleiten Traumschlüssel, die Traumbilder mit Lottonummern überschreiben, das Aufkommen der Lotterien (Österreich 1752, Preußen 1763, Dänemark 1771, Frankreich 1776, S. 102). In den Handreichungen »pour tous les publics et toutes les bourses« (S. 111) leben die alten Vorhersagepraktiken des Genres auf (François-Joseph Favey).

Ist der Traum nur Trugbild und Illusion? Der Philosoph Nicolas Fréret (1688–1749) verwirft ihn in seiner »Lettre de Thrasybule à Leucippe« (1722–1725), zentral für die »littérature clandestine«, grundsätzlich: Als »machine productrice d’erreurs« widerspreche er der Erfahrung und der »activité de la raison« (S. 145, Adrien Paschoud). Bei den Aufklärern wirft die Frage das Problem der »transparence des rêves« (S. 149) auf, des Zugangs zum Herzen des Menschen, »lieu des passions et des transports émotionels« (S. 151): »Chez Rousseau, la quête d’une transparence du rêve s’inverse en un rêve de la transparence dont toute théâtralité aurait disparu; chez Diderot, le rêve est au contraire envisagé sur le mode du théâtre, qui constitue un laboratoire des identités possibles« (S. 162, Érik Leborgne).

Welchen Status hat die (Nach)Erzählung eines Traums? Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Romans. Dass er in ganz Europa – bei Voltaire und Cazotte, Beckford und Potocki – mit Träumen arbeitet, dient nicht nur der Handlung, sondern stellt auch das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion auf die Probe und damit die Gattung als solche (François Rosset). Das Ineinander von Traum, Lesen und Lektüre – namentlich von Bibel und Gothic Novels – in englischen Romanen ergibt eine »Typologie des Traums« (S. 220), von Bunynans »The Pilgrim’s Progress« (1678) bis zu Emily Brontës »Wuthering Heights« (1847) (Dimiter Daphinoff). Jean Pauls Romane kreisen um die »Träume vom ›Anderen‹« (S. 203) und das Lesen als ihre Quelle; er verlangt als idealen Leser eine Leserin, denn nur »die träumend Lesende« vermöge sich »träumend, also vorbehaltlos, unkontrolliert einem Text zu nähern, diesen ganz naiv, gewissermaßen intellektuell unvorbelastet zu lesen und dabei eine Art unmittelbares, begriffsloses Verstehen zu generieren« (S. 172, Sabine Haupt). Casanova (1725–1798) schildert am Anfang seiner »Histoire de ma vie« (ab 1790) einen Kindheitstraum: die Großmutter bringt den Achtjährigen auf die Insel Murano zu einer Hexe, die sein Nasenbluten stillt. Die Heilung wird verschieden erzählt, der Traum zur »épisode fondateur« der Autobiografie: »le rituel magique, le travail de l’inconscient et la réflexion philosophique par laquelle le mémorialiste propose une lecture critique de son rêve«. Casanova »innove dans le domaine de la littérature du rêve, comme dans l’écriture autobiographique, en articulant fantasmatiques et tendances profondes de l’individu« (S. 196, Emmanuel Alloa).

Träume sind Bilder; Bilder stellen Lesende und Träumende dar. Eine Reihe von Porträts – eine »Woman as St. Agnes« (S. 227) und eine Kanonisse, Gelehrte, Schriftsteller, Schauspieler – zeigt Lesende, die aufblicken, den Finger noch im Buch haben. Eine »Phänomenologie der Lektüre« (S. 238) kann hier anschließen (Ulrich Johannes Schneider). Goyas »El sueño de la razón produce monstruos« (1799, in: »Los Caprichos«) und die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion (1822) treiben die Erkundung der Träume in »Bild« und »Schrift« (S. 245) voran, sowohl in den Künsten wie in Medizin und Wissenschaften (Magdalena Becker). Der Film setzt von Anfang an auf Traumszenen aller Art. Bei Hitchcock, Bergman, Lumet und Kubrick etwa deuten sie Ereignisse voraus oder klären Vergangenes auf, bei Fellini und Lynch wird »la frontière entre l’expérience rêvée et l’expérience vecue« durchlässig; bei Resnais und Wong Kar-Wai die zwischen Tagtraum und Traum (Michel Viegnes).

Der »vernünftige Arzt« Johann Gottlob Krüger (1715–1759) sammelt Träume (4 Bände, 1758–1785) für seine Experimente und eine Traumtheorie; er setzt zudem auf die Traumsatire als »avanciertes Erkenntnismedium«, »das die Ordnung des gelehrten Diskurses durcheinanderwirbelt, und zwar gerade weil Krügers Träume Lektüren sind« (S. 285, Carsten Zelle). Für den Göttinger Physikprofessor und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1764–1799) sind Träume »erkenntnisstiftende Szenen einer ›anderen Vernunft‹« (S. 307). In »literarischen Traumerzählungen« (S. 312) über die »Grenzen menschlicher Erkenntnis« und die »Hybris der Wissenschaftler« (S. 311) imaginiert er auch, wie die »›größesten Dichter und Künstler‹ […] ›wachend‹ zu schreiben, als ob sie träumten« (S. 319, Arnd Beise). Charles Nodier (1780–1844), Schriftsteller und Bibliothekar, attackiert als »non-médecin« (S. 324) »l’›hôpital‹ à l’épidémie de choléra« (S. 327) und publiziert zugleich über den Alptraum, eine »affreuse maladie« (S. 327). Seine Erzählung »Smarra ou Les démons de la nuit, songes romantiques, traduits de l’esclavon du comte Maxime Odin« (1821) ist in der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit omnipräsent. Erst im 20. Jahrhundert gilt er als »malade«, Smarra als »exercice érudit, à mon sens [i. e. Roger Caillois, 1971] exécrable, d’une ridicule emphase et dont l’académisme, s’agissant de donner l’impression d’un cauchemar, représente un contresens presque grotesque« (S. 342, Juan Rigoli). Victor Egger (1848–1909), ab 1904 Professor für Philosophie und Psychologie an der Sorbonne und Lehrer von Proust, errichtet sich 1872, am Ende seines Studiums, ein »atelier«: um »écrire au plus près de ses sommeils« (S. 363), seine Aufzeichnungen zu sammeln, zu studieren und zu publizieren – »au modèle de rêves rendus publics par d’autres« (S. 348, Jacqueline Carroy). Sein Nachlass, heute an der Bibliothek Victor Cousin der Sorbonne, bezeugt einmal mehr, dass und wie »Natur-« und »Kulturprodukt« sich zuarbeiten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Helga Meise, Rezension von/compte rendu de: Claire Gantet, Helmut Zedelmaier (Hg.), Leseträume – Traumlektüren. Lesen und Traum in historischer Perspektive/Lire en rêve – lire des rêves. Lire et rêver dans une perspective historique, Basel (Schwabe Verlag) 2022, 396 S., 32 s/w Abb., 11 farb. Abb., ISBN 978-3-7965-4671-6, CHF 70,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101517