Nach seinem Verhör vor Kaiser und Reich auf dem Wormser Reichstag 1521 wurde Martin Luther von seinem Landesherrn, Kurfürst Friedrich III. dem Weisen, in einer Art von Geheimoperation auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Damit sollten mögliche Angriffe auf die Person des Reformators aufgrund von dessen Exkommunikation und reichsrechtlicher Bannung verunmöglicht werden. Vom 4. Mai 1521 bis in die erste Märzwoche 1522 hielt sich Luther auf der Wartburg auf – sieht man von einem Kurzbesuch in Wittenberg im Dezember 1521 ab. In dieser Zeit schuf Luther jene Übersetzung des Neuen Testaments, die Weltbedeutung erlangen sollte.

Aus Anlass des 500. Jubiläums dieses Aufenthaltes fand vom 21. bis zum 23. Oktober 2021 eine interdisziplinäre Fachtagung in Eisenach statt. Die Ergebnisse dieser Tagung liegen nun in einem Sammelband vor, der in der Schriftenreihe »Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation« erschienen ist.

Betrachtet man den Titel des Bandes »Luther auf der Wartburg 1521/22«, so würde man einen thematisch relativ eng umrissenen Inhalt erwarten. Der Untertitel »Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte« verweist jedoch darauf, dass die Beschäftigung mit Luthers Leben und Erfahrungen auf der Wartburg nicht im Vordergrund der hier versammelten Beiträge steht. Im Gegenteil, der Band öffnet einen weiten Horizont zum Thema »Bibelübersetzungen« und bietet dabei ein beeindruckendes Panorama.

Der Band besteht insgesamt aus vier Sektionen, von denen sich die ersten drei thematisch mit Bibelübersetzungen beschäftigen. Unter der Überschrift »Spätmittelalterliche Bibelübersetzungen und kritische Editionen vor 1517« vermittelt Stephan Flemming zunächst einen Einblick in die Forschungen zu »Bibelwissenschaften in Spanien« (S. 11–42) und damit vor allem zur »Complutensischen Polyglotte«. Jens Haustein widmet sich Fragestellungen zu »Vorreformatorischen Übersetzungen der Bibel in die deutsche Volkssprache« (S. 43–52), wobei die Bedeutung der Übersetzungen für die Laienfrömmigkeit besonders thematisiert wird. Diese erste Sektion wird abgeschlossen durch Achim Hacks »übergreifende Beobachtungen« zu »Bibelübersetzungen vor 1521« (S. 53–71), die den Blick auf Übersetzungsleistungen seit der »Septuaginta« richten.

Die zweite Sektion »Sprache und Rezeption« wird durch den Beitrag von Hans-Joachim Solms eröffnet, in dem »Luthers Vollbibel (1534) und Katechismus« (S. 73–88) eine wesentliche Beteiligung an der »Sprachentwicklung in Deutschland« zugewiesen wird. Hans Belen diagnostiziert daraufhin in den Forschungen der niederländischen Sprachwissenschaft zur »niederländischen »Statenvertaling« (1637)« (S. 89–100) dahingehend eine Neueinschätzung, als der Einfluss auf die Standardisierung der niederländischen Sprache durch die Übersetzung nun deutlich geringer veranschlagt würde. Bis in das 19. Jahrhundert wird die Perspektive durch Werner Greiling erweitert, wenn er die Bemühungen Gustav Friedrich Dinters schildert (S. 101–128), mit der »Schullehrer Bibel« (1824–1828) in die Fußstapfen Luthers zu treten und als Volksaufklärer und Volkslehrer zu wirken. Beschlossen wird diese Sektion von Bridget Heals Ausführungen zur »Rezeption lutherischer Bibelillustrationen in Renaissance und Barock« (S. 129–141), in dem sie die Bedeutung von Bildern anhand verschiedener abgedruckter Bildbeispiele für die religiösen Erfahrungen von Lutheranern in der Frühen Neuzeit anschaulich hervorhebt.

Die dritte Sektion »Der Weg zur Vollbibel (1522–1534)« beginnt mit Stefan Michels Aufsatz zu der »Übersetzung des Neuen Testaments durch Luther auf der Wartburg« (S. 143–155), in dem Michel auf die Korrespondenzen mit Spalatin und Melanchthon verweist, die Luther befragte, um Fehldeutungen zu vermeiden. Die Bedeutung von »Luthers Bibelübersetzung für den Buchhandel im 16. Jahrhundert« wird sodann von Thomas Fuchs (S. 157–176) anhand zahlreicher Grafiken und Tabellen eindrucksvoll belegt. Anja Gause richtet den Blick auf »Illuminierte Lutherbibeln« (S. 177–199), die als Luxusobjekte in ihrer Zeit eher Normalfälle als Kuriosa darstellten. Daran schließt Nadine Willing-Stritzke mit ihrem Aufsatz zu den »anhaltinischen Prachtbibeln« an (S. 201–232), die als höfische Repräsentationsmedien der reformatorischen Lehre landesherrliche Autorität verliehen. Sebastian Dohes Beitrag zu den »Illustrationen der Lutherbibel von 1534« (S. 233–256) erweitert die Fragestellung nochmals mit dem konkreten Blick auf die Bedeutung der Cranachs und ihrer Werkstatt für die Vollbibel.

Die vierte Sektion »Luther auf der Wartburg« widmet sich schließlich zuerst »Luthers Reisewegen und Kontakten«. Christopher Spehr verweist hier auf die Wirkung der Invokativpredigten Luthers und der daraus resultierenden Spaltung seiner Anhänger (S. 257–278). Uwe Schirmer erörtert sodann den Funktionsverlust als landesherrlicher Residenz der »Wartburg zwischen 1443 und 1525« (S. 279–296). Die vorhandene Forschung präzisierenden und korrigierenden Ausführungen zu »Martin Luther als ›Junker Jörg‹« von Daniel Görres und Thomas Klinke beschließen die Sektion.

Über die Sektionen hinaus präsentiert der Band noch zwei Abendvorträge von Johannes Schilling zur »Geburt der ›Biblia Deudsch‹ aus dem Geist des Evangeliums« (S. 321–340) sowie von Elke Anna Werner zu »Cranach, Luther und die Bibel« (S. 341–360). Den Band beschließen diverse Register (Abkürzungen, Abbildungen, Orte, Personen) sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.

Jedem und jeder, der oder die sich mit der Übersetzungsleistung Luthers, deren Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sprache, dem Verhältnis von Wort und Bild in Luthers Vollbibel sowie mit Vergleichen zu Vorläufern und Nachfolgern von Luthers Übersetzung in der deutschen oder anderen Sprachen beschäftigen will, sei dieser Band wärmstens empfohlen. Besonders lobend hervorzuheben ist zudem die hohe Qualität der Bebilderung zahlreicher Beiträge.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jan Martin Lies, Rezension von/compte rendu de: Werner Greiling, Uwe Schirmer, Elke Anna Werner (Hg.), Luther auf der Wartburg 1521/22. Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2023, 378 S., 79 Abb. (Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 13), ISBN 978-3-412-52008-3, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101518