Der Sammelband vereint Beiträge einer Tübinger Tagung von 2019, in der es darum ging, die Reichweite und Begrenzungen des von Volker Leppin schon 2015 auf die Reformationsforschung angewandten Begriffs der »Transformation«, wie er im interdisziplinären sozial- und auch politikwissenschaftlichen Feld Verwendung findet, mit konzeptuellen Beiträgen und Fallstudien weiter zu erproben. In seinem intellektuell anregenden, fast spielerischen Auftakt verweist Ulrich H. J. Körtner auf die Autobots des filmischen Science-Fiction-Genres »Transformers« und kombiniert sie mit der aristotelischen Vier-causae-Lehre insoweit, dass bei Gestalten wie Bumblebee die Substanz oder Essenz des Wesens gleich bleibe, und in der Wandlung vom Roboterkrieger zum VW-Käfer nur eine pure Veränderung der Form stattfinde. Wie verhält es sich mit »der« oder »den« Reformationen um 1500? Blieb die Kirche ihrer Essenz nach die gleiche oder fand eine radikale Veränderung statt? Ob so oder evolutionstheoretisch umformuliert, neigt er am Schluss dazu, die Reformation im Sinne eines »eschatologischen Geschehens« (S. 24) als ein Ereignis festzuhalten, das theologisch notwendig jenseits von Transformation stattfindet; alle Transformationskonzepte können sich demnach nur auf ein humanhistorisches Geschichtsereignis beziehen. Dem dürfte keiner der Beitragenden widersprechen, insoweit sich alle im Wesentlichen auf kulturelle und im nicht-ontologischen Sinne auf historische Prozesse beziehen. Doch ist die Erinnerung an das Nicht-Zurverfügungstehen des eigentlich nur glaubbaren Sinnzusammenhanges für eine Transformationsanalyse aus Sicht der Religion oder des lutherischen Gottes zu Beginn des Bandes sicher hilfreich. Jörn Ahrens und Volker Leppin führen dann an die inzwischen in Handbüchern greifbar gemachte Transformationsforschung etwa seit Polanyi ein, und Leppin hebt hervor, dass es dabei im Wesentlichen um eine Heuristik für Systemwandel geht. Seine eigene Indienstnahme der kultursoziologischen Begrifflichkeit, sie mit Berndt Hamms Konzept der normativen Zentrierung verknüpfend, führt für ihn zu Transformation als einer Änderung der Konfiguration von Positionen in einem sozialen Raum: »Die Positionen im sozialen Raum konfigurieren sich« (S. 44) um ein neues normatives Zentrum herum, das andere Relationen und Stellungen im politischen, kirchlichen, häuslichen und kulturellen Gesamt herbeizwingt, so wie ein Magnet oder ein anderes Spannungsfeld umgebende Teilchen zu anderen Positionen zwingt. Dies scheint auch den Unterschied zur Heuristik des abgeschlossenen SFB 644 »Transformationen der Antike« zu sein, dessen Konzept und »Organon« mit 14 Transformationstypen Johannes Helmrath noch einmal abdruckt, um in der Anwendung auf die Reformation als Ganze eher skeptisch zu fragen, ob es sich hier in diesem Berliner Sinne um Transformation handele, da die Bestimmung des Referenzbereiches (»das Mittelalter? Die spätmittelalterliche Kirche? Die [noch] katholische Welt um 1517?«, S. 106) schwer oder undeutlich sei. Im Kern denkt Leppin Transformation intransitiv als Veränderung von Positionen um eine normative Zentrierung herum, Berlin-Helmrath denken Transformation transitiv, eigentlich fast affin zu »Übersetzung, Translation, Rezeption von etwas«. Beides scheint nicht unvereinbar, aber das etwas drittmittelantragsprosaische Handwerkszeug der 14 Punkte ist für die wohl ein wenig freiere, für hermeneutisch-deskriptives Abtasten und Umschreiben gedachte (und so zugleich unschärfere) Rahmenbegrifflichkeit, die Leppin in die Diskussion bringt, vielleicht etwas zu starr und deduktiv geformt. Je weiter der Begriff ist, desto größer ist freilich auch die Gefahr, dass er zu einem jener »Alles ist x«-Konzepte wird – bei Schäufele mag er dann als Ansatz für Christentumsgeschichte an sich als Transformationsgeschichte (S. 68) stehen, bei Gause als Begriff, »der die Jahre 1400–1800 umschlösse« (S. 75), womit deutlich wird, dass dann »Transformation« rasch synonym oder äquivok mit »historischer Veränderung« tout court zu werden droht. In seiner Anwendung auf die Straßburger Reformation empfindet Matthieu Arnold den Transformationsbegriff hinsichtlich von Liturgie, Armenpflege und Katechese als hilfreich, um Kontinuität im Wandel und umgekehrt sichtbar zu machen, empfiehlt zum Schluss sogar den Blick auf Braudels Modell der drei Geschwindigkeiten historischen Wandels aus dem berühmten Vorwort der »Méditerranée«, »was [sc. auf der Ebene der histoire événementielle] in den 1520er-Jahren manchmal als brutale Änderung erschien, [konnte] auf eine Dauer von Jahrzehnten nicht mehr so bruchartig betrachtet werden« (S. 130). Die Frage nach der Umwandlung der Bereiche Ehe, Haus und Familie zwischen Mittelalter und Renaissance sei »wahrlich keine neue«, stellt Schmidt-Voges fest (S. 131) und resümiert hier Eckpunkte, zum Schluss auch auf der beispielhaften Quellenbasis aus der hessischen Landesgeschichte (S. 148‑150). Anne Pawlak präsentiert die konfessionelle Indienstnahme der Ikonografie des bethlehemitischen Kindermords, etwa von Brueghel bis Rubens, für die überblendende Selbstdeutung der niederländischen Reformierten im Kampf gegen die Spanier. Solche Überblendungen, die in der niederländischen Malerei ja auch für Migrations- und Stadtbranddarstellungen (Sodom, Troja) bekannt sind, scheint sie als Transformationen erster Stufe des biblischen topos zu verstehen, während Rubens’ Darbietung als nachtridentinisch-katholische, die Vorgänger überbietende »Transformation einer Transformation« (S. 174) zu begreifen wäre. Thomas Schipperges begibt sich auf die Mikroebene der Bibeltextgeschichte, um Luthers Übersetzung von »kînôr« in Gen 4, 19–21 als Bezeichnung des Instruments, das der Lamech-Sohn Jubal als Urheber der Musik benutzte, mit »Geiger [und Pfeiffer]«, als Transformation im Kontext der Verbreitung des neuen italienischen Instruments der Violine und Luthers Wiedergabe also als Aktualisierungsvorgang des Textes, was von 1523/1524 bis 1912 Bestand hatte, zu deuten: erstmals wurde hier ein Bogen- statt ein Orgel- oder Pfeifinstrument eingesetzt. Stefan Michels bietet eine musikhistorische Anwendung des Transformationskonzepts: gegen ältere romantisierende und in der Tradition theologisierende Deutungen von Bachs Kompositionen stellt er heraus, dass die »Sinfonia« zu Beginn der zweiten Kantate des Weihnachtsoratoriums nicht nur als eine Hinführung oder ein Einleitungssatz zum Hirtenidyll, sondern als »heilsgeschichtliche […] Prolepse des Inkarnationsgeschehens«, also als ein Versuch Bachs zu verstehen sei, das christologische Paradoxon, dass »das Wort Fleisch« wurde in der Geburt Jesu Christi, hörbar zu machen. Theologoumena in Musik zu fassen; sie erfahrbar, ja glaubbar zu machen, sei Bachs eigentliches Streben gewesen: Komposition und Musik müssten als ein Prozess der (De)codierung von Theologie und eine »transformatorische Applikation in den Gläubigen selbst« [hinein] verstanden werden (S. 224). Friedrich Vollhardt zeigt in einem dichten Nachvollzug der Darstellung von Höllenpein und -gräuel von der hochmittelalterlichen »Visio Tnugdali« des 12. Jahrhunderts mit der Jenseits-, insbesondere Höllenfahrt eines Ritters bis zur Reformationszeit, wie die ursprüngliche jenseits-topische Verbannung der imaginierten ewigwährenden Strafen sich in eine Konfrontation mit teuflischen Anfechtungen im Hier und Jetzt bei Luther und im neuen Genre der lutherischen Teufelsbücher transformierte: Nicht, dass Hölle und Jenseits gänzlich geschwunden wären, aber die fundamentale Umstellung der Rechtfertigungs- und Gnadenlehre veränderte das paradiesische Jenseits ins Kognitiv-Abstrakte der endgültigen Gotteserkenntnis einerseits und hob andererseits die diesseitigen Anfechtungen hervor, auch und gerade weil Buße nicht mehr als Kontoeinzahlung in Fegefeuerminderung dienen konnte. Ähnlich betont Jörg Robert, dass die Ausrichtung von Johannes Clajus und von Martin Opitz auf sakrale Dichtung und Sprache Luthers als Vorbild weder im Sinne eines Bruchs und dann protestantischer Kanonisierung, denn als Indienstnahme von Texten und Formen im größeren Rahmen der Renaissanceliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts zu verstehen sei. Opitz’ ersatzweise Regelbildung der Akzentmetrik-Gesetze anstatt der unmöglichen quantitierenden römischen oder griechischen Prosodie, wie es schon Clajus angedeutet hatte, ist so als Theoretisierung einer bestehenden Praxis zu verstehen: Transformation durch und als theoretische Explizierung eines zuvor schon vorbildhaft und regelförmiger gewordenen Dichtungsstils. Robert nimmt auch den Begriff der normativen Zentrierung auf, stellt aber klar, dass die Opitz’sche Regelpoetik trotz ihres Normcharakters nicht »normative Zentrierung« analog zum Reformationsgeschehen als solche verstanden werden darf: für ihn ist die Regelpoetik gerade eher die Antwort auf die »Pluralisierung der Optionen, der Dezentrierung« im literarischen Feld (S. 274). Dies scheint dann doch eine leicht andere, sozusagen Altmünchner Heuristik zu sein (Normativität als Antwort auf Pluralisierung, beides im epistemischen Bereich des Literarischen; das Konfessionelle nur als ein gekoppelter Wirkfaktor), als etwa die Opitz’sche Regelpoetik als Neu-Positionierungs- und Relationierungseffekt im poetischen Feld aufgrund einer kausal wirkenden reformatorischen normativen ultimativ bedeutsamen Zentrierung zu lesen, wie es wohl die Leppin’sche Heuristik forderte.
Der Band überzeugt gerade durch die dichten Fallanalysen im hinteren Teil, die zum Nachdenken am Quellenmaterial selbst anregen. Der Transformationsbegriff erscheint hier zumeist variiert, als vielleicht sogar austauschbare Synthesebegrifflichkeit, um an das Gesamt des Bandes anzuschließen, im Kern werden hermeneutisch-interpretativ Wandlungsprozesse im sozialen, philologisch-textuellen, musikalischen, ikonografischen und literarisch-ästhetischen Feld dargestellt und analysiert. Reformation und Reformatorisches, konfessionelle Grenzziehungen sind in diesen Vorgängen unhintergehbare Wirkfaktoren mit Polarisierungs- und Herausforderungswirkung, aber interne epistemische Entwicklungsmotoren (Musikpraxis und -theorie; humanistische Stil- und Theoriereflexion seit Petrarca) wie gegebenenfalls auch externe politische und herrschaftliche (Staatsbildungsprozesse, Veränderungen im Rechtsleben) werden auch sichtbar, sodass die Fallbeispiele jedenfalls nicht nur Beispiele von Reformation als Transformation sind. Ob diese Beobachtung eher für ein eng aufgefächertes organon von Transformationstypen spricht (Helmrath), die es abzuarbeiten gilt, oder ob der weitere, in der Reformationsgeschichte so nun nachdrücklich eingebrachte Prozessbegriff (Leppin) gerade ausreicht, um von einigen Eckpunkten her, aber doch frei im eigenen disziplinären Kontext über Umwandlung und Wandlungsprozesse nachzudenken, oder ob man feld-neutral von Pluralisierung und Autorität/Normativität ausgeht (Robert), mag der Leser oder die Leserin entscheiden – man tut wohl gut daran (wie die Autoren und Autorinnen des Bandes), die eigene Gewöhnung an Dachkonzepte kollektiver Forschungsgruppen nicht zu stark und standorts-kompetitiv mit Aussagen über die Wahrheit der Geschichtsverläufe selbst zu verwechseln. Jedenfalls bedürfen die historischen Geisteswissenschaften der gemeinsamen Arbeit in den verschiedenen Disziplinen und Gegenstandsbereichen, denn solche Dialogfähigkeit herzustellen ist die Stärke solcher Ansätze, und hier zeigt(e) sich die Kirchengeschichte mit einem solchen Begriff offen für die kontinuierlichen gegenseitigen Perspektivenwechsel, für Vergleiche und Spiegelungen von der Frage nach der epochalen Veränderung um 1500 her.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Cornel Zwierlein, Rezension von/compte rendu de: Volker Leppin, Stefan Michels (Hg.), Reformation als Transformation? Interdisziplinäre Zugänge zum Transformationsparadigma als historiographischer Beschreibungskategorie, Tübingen (Mohr Siebeck) 2022, 285 S. (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation, 126), ISBN 978-3-16-161276-3, EUR 104,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101523