Die schwerwiegende Pestepidemie, die in den Jahren 1720 bis 1722 in Marseille zehntausenden Menschen das Leben kostete, setzte eine Text- und Bildproduktion in Gang, die bis heute nicht zum Erliegen gekommen ist. Erste Schriften über die dramatischen Entwicklungen, die sich damals in der Hafenstadt am Mittelmeer vollzogen, entstanden bereits, als die Seuche dort noch grassierte. Kaum hatte sich der Schwarze Tod dann aus Marseille zurückgezogen, nahmen auch schon künstlerische Reminiszenzen Gestalt an: Kein anderes Ereignis in der langen Geschichte dieser Stadt hat Régis Bertrand zufolge so viele Malereien, Skulpturen und Gravuren hervorgebracht wie die Pest von Marseille1. Und kein anderer Seuchenzug der Frühen Neuzeit hat später die lokal- und regionalgeschichtliche Forschung in Marseille und der Provence so sehr beschäftigt wie der von 1720/1722. Bertrand hat deshalb bereits vor einem Vierteljahrhundert seine Sorge zum Ausdruck gebracht, dass die Pest von Marseille aufgrund ihrer historiografischen Prominenz im Vergleich zu anderen Epidemien in ihrer Bedeutung überschätzt werden könnte2. In Anbetracht der Tatsache, dass es 2020, 2021 und 2022, als sich das Seuchengeschehen zum dreihundertsten Mal jährte, erneut zu einem Aufwuchs an Publikationen kam, erscheint diese Sorge begründeter denn je. Zumal Studien zu anderen epidemischen Entwicklungen, die in der frühneuzeitlichen Provence virulent waren, nach wie vor Seltenheitswert haben.
Ohne den tricentenaire der Pest von Marseille wäre wohl auch das großformatige Buch nicht erschienen, um das es hier geht. Es stellt gewissermaßen eine Synthese dar aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen, mit denen Marseille von 2020 bis 2022 einer zentralen Episode seiner Geschichte gedachte. In diesem Kontext fungiert das Buch als Katalog der von Oktober 2021 bis Januar 2022 im historischen Museum der Stadt gezeigten Ausstellung »Marseille en temps de peste« (S. 192–274). Es erfüllt damit eine unabweisbare dokumentarische Pflicht. Seine (um im Bild zu bleiben) Kür vollführt der Band, indem er knapp zwanzig substanzielle Aufsätze versammelt, in denen maßgebliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedeutende Aspekte der Epidemie von 1720/1722 auf dem aktuellen Stand der Forschung behandeln (S. 16–139). Den mittleren Teil des Bandes bildet schließlich eine ausführliche Chronik, die für die Periode von Mai bis Oktober 1720 im Rhythmus von zumeist nur einigen wenigen Tagen die Texte wichtiger Zeitzeugen wiedergibt (S. 140–184). Im Fokus der nachfolgenden Ausführungen soll der Aufsatzteil stehen. Dabei kann allerdings bedauerlicherweise nicht jeder Beitrag Berücksichtigung finden.
Der Aufsatzteil gliedert sich in drei Abschnitte, von denen gleich der erste eine Überraschung bereithält. Dieser erste Abschnitt präsentiert nämlich nicht etwa die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft über die Pest von Marseille, sondern diejenigen der, wie es in der entsprechenden Überschrift heißt, »Archéologie«. Damit trägt die Gliederung des Aufsatzteils der Tatsache Rechnung, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Epidemie von 1720/1722 in der jüngeren Vergangenheit die größten Fortschritte bei der Erkundung materieller Hinterlassenschaften erzielt hat. Diese Fortschritte rekapituliert einleitend Michel Signoli, der die Pest von Marseille in diesem Zusammenhang als ein »phénomène sociobiologique total« charakterisiert (S. 18). Was Signoli damit unter anderem meinen dürfte, zeigen im darauffolgenden Aufsatz Stéfan Tzortzis und Caroline Costedoat. Sie präsentieren die Ergebnisse, die die Ausgrabung zweier Massengräber zutage gefördert hat, in denen 1720/1722 insgesamt mehrere hundert Pestopfer bestattet wurden. Die Tatsache, dass die Verstorbenen in den beiden Massengräbern auf je eigene Weise zu liegen kamen, lässt darauf schließen, dass die Bestattungen unter unterschiedlichen epidemischen Kontextbedingungen erfolgten und auch unterschiedliche Vorgehensweisen implizierten. Zu liegen kam am 26. September 1720 aber auch das Schiff, das den Schwarzen Tod nach Marseille gebracht hatte: Die Grand-Saint-Antoine wurde vor der Insel Jarre zunächst in Brand gesetzt und dann versenkt. Im Jahre 1978 entdeckten in einer Bucht derselben Insel zwei Taucher die Überreste eines verbrannten Wracks. Michel Goury erläutert in seinem Beitrag die im Rahmen von fünf unterwasserarchäologischen Grabungen freigelegten Bestandteile dieses verbrannten Wracks, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um Relikte der Grand-Saint-Antoine handelt.
Die Insel Jarre war Teil einer komplexen Infrastruktur, der die Aufgabe zukam, die Stadt Marseille unter Zuhilfenahme naturräumlicher Gegebenheiten vor einem Übergreifen der Pest zu schützen. Diese Infrastruktur wird im zweiten Abschnitt des Aufsatzteils auseinandergesetzt, der denn auch den Titel trägt: »Le système de la quarantaine et l’arrivée du Grand-Saint-Antoine«. Titelgebend ist hier also nicht mehr wie beim ersten Abschnitt des Aufsatzteils eine Fachdisziplin, sondern vielmehr eine Thematik. Dabei betont Annick Riani in ihrer Einleitung, dass das Marseiller Quarantänesystem seine Effizienz lange Zeit unter Beweis gestellt habe. Dass es 1720 dennoch zur Katastrophe kam, führt sie zum einen auf eine mangelhafte Anwendung der geltenden Vorschriften und zum anderen auf ein Versagen des »système sanitaire« zurück (S. 46). Dessen Funktionsweise erläutert Riani in einem weiteren Aufsatz, während Goury ebenfalls in einem weiteren Beitrag die Quelle der déposition einführt: Hierbei handelt es sich um einen Eintrag, den das Bureau de la Santé von Marseille auf Grundlage der Angaben vornahm, die der Kapitän eines Schiffes, das im Hafen dieser Stadt anlegen wollte, gemacht hatte. Im Falle des Kapitäns der Grand-Saint-Antoine sowie der Kapitäne, die vor und nach diesem vom Gesundheitsbüro befragt wurden, ist die déposition erhalten. Sie weist allerdings eine auffällige Anzahl an Streichungen, Ersetzungen und Ergänzungen auf. Goury selbst spricht daher von einer »déposition raturée, surchargée, ›falsifiée‹« (S. 73).
Der dritte Abschnitt des Aufsatzteils gilt schließlich der– und auch hier ist der Titel ein thematischer – »lutte contre la peste«. Was die geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion dieses Kampfes angeht, so unterscheidet Fleur Beauvieux einleitend drei Untersuchungsfelder: das Handeln der weltlichen Obrigkeiten, das Handeln des ärztlichen Personals und das Handeln der geistlichen Würdenträger. Gilbert Buti knüpft hier in gewisser Weise an, indem er eine Vielzahl an Maßnahmen erläutert, die 1720/1722 in Marseille, aber auch (anderen) Teilen der Provence gegen die Pest ergriffen wurden. Hierzu gehörte neben dem Bau der berühmten Pestmauer auch die Einrichtung von Sanitätskordons. Wiewohl letztere auf Initiativen der Krone zurückgingen, weist Buti auch auf die Begrenzungen hin, die dem Wirken des Königtums (beziehungsweise zum damaligen Zeitpunkt: der Regentschaft) unter den besonderen Bedingungen der Epidemie von 1720/1722 gesetzt waren. Beauvieux legt ihrerseits in einem weiteren Beitrag Wert auf die Feststellung, dass den Bürgerinnen und Bürgern von Marseille trotz der vielen obrigkeitlichen Eingriffe, die dort angesichts des Seuchengeschehens erfolgten, einige Handlungsspielräume verblieben. Hieran änderte mithin auch die auf kleinen räumlichen Einheiten beruhende Organisation der Seuchenbekämpfung und Überwachung nichts, die mit der administrativen Aufspaltung des Stadtgebiets in »îlots« in Marseille etabliert wurde (S. 99). Hingegen erscheint es, wie Bertrand in einem weiteren Beitrag darlegt, unwahrscheinlich, dass die Schnabelmaske 1720/1722 in Marseille im Kampf gegen die Pest zum Einsatz gekommen wäre. Wie sich denn ohnehin die Verwendung dieser Masken in konkreten epidemischen Kontexten nur schwer nachweisen lässt. Vielmehr scheinen wir es wesentlich mit einer ikonografischen Tradition zu tun zu haben. Umso wichtiger ist es, die Bildsprache angemessen zu übersetzen und nicht, wie dies im 19. Jahrhundert geschah, in Bußbrüdern Pestärzte zu erblicken.
Neben den Texten als solchen stellen Bilder das zweite maßgebliche Medium des Aufsatzteils dar, insofern dessen Beiträge über alle drei Abschnitte hinweg durch viele farbige Fotografien zeitgenössischer Gegenstände und Dokumente ergänzt werden. Dank der weit über hundert Abbildungen im Katalogteil treten die Pest von Marseille und der Kampf gegen diese der Leserin bzw. dem Leser in ihrer Materialität eindrücklich vor Augen. Dem Buch selbst verleihen die zahllosen Abbildungen – zu den Fotografien hinzu kommen noch Karten, Grundrisse, Schaubilder usw. – eine gewisse Opulenz, die aufgrund der sonstigen Gestaltung des Bandes allerdings in keiner Weise auf Kosten der Haptik geht. Mithin liegt auch in dieser ganz praktischen Hinsicht eine große Stärke des Buches in dessen Zugänglichkeit. Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler sollten sich durch den Band ebenso angesprochen fühlen wie interessierte Laien. Dies gilt nicht zuletzt für die Aufsätze, die durchweg kompakt und in gut lesbarem Französisch verfasst sind. Die Qualität der Darstellungen leidet unter den Verkürzungen und Vereinfachungen nicht, die ein solches Vorgehen unweigerlich mit sich bringt. Nennenswerte sachliche Fehler finden sich in dem Band keine. Dieser besticht vielmehr durch die Art und Weise, wie er Präzision und Anschaulichkeit miteinander in Einklang bringt. »Marseille en temps de peste« führt beispielhaft vor, wie sich auch bereits sehr gut untersuchten Forschungsgegenständen im eigentlichen wie übertragenen Sinne des Wortes neue Seiten abgewinnen lassen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thorsten Busch, Rezension von/compte rendu de: Musée d’Histoire de Marseille (dir.), Marseille en temps de peste 1720–1722. Exposition du 8 octobre 2021 au 30 janvier 2022, Gand (Snoeck) 2022, 272 p., ISBN 978-94-6161-709-5, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101527