Gab es einen Altermondialismus avant la lettre im Frankreich des Ancien Régime? In seiner neuesten Studie bejaht der Wissenshistoriker Stéphane van Damme diese Frage unter Verweis auf die libertins érudits, denen er bereits 2008 eine Untersuchung gewidmet hatte1. Diese verweigerten sich der vorherrschenden, nicht zuletzt von Jesuiten vertretenen aristotelischen Weltdeutung und entwickelten alternative Perspektiven auf die Wissens- und Sozialordnungen außereuropäischer Gesellschaften. Der Verfasser legt dar, wie sich europäische Praktiken der Generierung und Ordnung von Wissen im Laufe der kolonialen Aneignung außereuropäischer Welten veränderten und rekonstruiert vor diesem Hintergrund die Infragestellung absoluter Herrschafts- und Wissensansprüche europäischer Monarchien durch die libertins.

Van Damme setzt in den 1620er-Jahren an, die er nicht nur durch die Intensivierung der kolonialen Expansion Frankreichs, sondern auch durch eine epistemologische Krise markiert sieht. Diese Krise sei in die Diskreditierung und Verfolgung der libertins érudits gemündet, die ihrerseits in die Provinz oder ins Exil ausgewichen seien oder sich auf Reisen begeben hätten. Als Endpunkt seiner Studie wählt van Damme die Gründung der Société asiatique de Paris im Jahr 1822, die er als Ausdruck einer zunehmenden Abwertung des Wissens indigener intermédiaires einordnet. Das in jüngster Zeit entwickelte globalisierungskritische Konzept des Altermondialismus dient dem Autor dazu, frühneuzeitliche Positionen herauszuarbeiten, die den mit der europäischen Expansion einhergehenden universalistischen Wissensanspruch kritisch hinterfragten. In Anlehnung an (und Abgrenzung zu) Mary Louise Pratts Konzept der contact zone entwickelt er das Konzept der zone critique (S. 20), das statt Phänomenen der Hybridisierung und Übersetzung Widerständigkeit und Gegendiskurse in den Mittelpunkt rücke. Auf diese Weise lasse sich die Aushandlung der Grenzlinien zwischen Akzeptablem und Inakzeptablem besser nachvollziehen. Derlei zones critiques arbeitet Van Damme für drei Paradigmen heraus, die Geografie, die Naturforschung und die Philologie. Davon ausgehend ist der Hauptteil der Studie in drei Abschnitte gegliedert.

Bei der Untersuchung geografischen Wissens geht Van Damme einleitend auf den in Auseinandersetzung mit den Eroberungszügen Alexanders des Großen im »Orient« entwickelten Skeptizismus des Pyrrhon von Elis ein. Der Tradition des Pyrrhonismus rechnet der Verfasser beispielsweise den Prinzenerzieher François de La Mothe le Vayer zu, dessen didaktisches Werk »La Géographie du Prince« er als Beleg einer relativierten vision française de l’englobement du monde (in Anlehnung an Antonella Romano, S. 32) deutet. Eindrücklich kann er seine These einer Subversion europäischer Wissensordnungen im Austausch mit indigenem Wissen an der Karte der Rivière Longue aufzeigen, die der Baron de Lahontan anhand einer Vorlage der ihn bei seiner Erkundungsreise zu Zuflüssen des Mississippis begleitenden indigenen Mittelsmänner erstellte und 1703 in einem breit rezipierten Reisebericht abdrucken ließ. Diese Karte weist indigene Elemente auf, wie lokale Toponyme und Darstellungen von Kanus und Häusern, und weicht von der europäischen kartografischen Tradition ab, indem sie keinen Genauigkeitsanspruch verfolgt und Zeit- anstelle von Distanzangaben enthält. Bedauerlich ist im Übrigen die schlechte Druckqualität der sehr klein abgebildeten Karte (S. 99) sowie weiterer Abbildungen des Bands, da so die erwähnten subversiven Details kaum zu erkennen sind.

Das zweite, deutlich knappere Kapitel zu naturkundlichem Wissen behandelt ein breites Themenspektrum. Es reicht von den Debatten um den Vampirismus an den östlichen Grenzen des Habsburgerreichs, der von den libertins als Scheitern der jesuitischen Mission gedeutet worden sei, bis zu den Auseinandersetzungen um die Astronomie um 1682, die im Zuge der affaire des poisons ihren Stellenwert als legitime und empirisch arbeitende »Wissenschaft« behaupten musste. Den voyageurs astronomes (S. 187) habe in der Folge die indische astronomische Tradition als Referenz gedient, um die eigenen Leistungen herauszustellen und die Arbeit jesuitischer Astronomen zu diskreditieren. Ähnliche Bemühungen um eine démystification (S. 179) beschreibt Van Damme auch für die Geologie und die Chemie. Die Zusammenstellung der einzelnen Themen ist dennoch nicht ganz überzeugend, da in der sehr knappen Darstellung Konflikte und Aushandlungsprozesse nur angerissen werden und die Relevanz der skeptischen Auseinandersetzung mit exotischem Wissen für die jeweiligen Wissensfelder nicht durchweg plausibel dargelegt wird.

Im abschließenden Kapitel zu philologischem und archäologischem Wissen stellt Van Damme zunächst die Bibliothèque du roi als Instanz der Sammlung und Ordnung von savoirs lointains und der projection culturelle de la France hors de l’Europe (S. 225) vor. Am Beispiel des Orientalisten Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron, der an dieser Institution tätig war und ihr seine Sammlung persischer und indischer Manuskripte überließ, zeigt er Aushandlungsprozesse um die Validität bestimmter Praktiken der Wissensgenerierung auf. Anquetil-Duperron habe sich bei seiner Reise nach Indien auf lokale Gelehrte als intermédiaires gestützt und sowohl Sanskrit als auch Persisch gelernt, um die zoroastrische »Avesta« selbst übersetzen zu können. Genau dieses Verfahren sei ihm nach seiner Rückkehr nach Paris in einer 1771 einsetzenden Kontroverse vom englischen Orientalisten William Jones, der die Authentizität seiner Werke anzweifelte, vorgeworfen worden. Die von Van Damme eingangs behauptete Delegitimierung des Wissens lokaler Gewährsmänner um 1800 zeigt dieser Fall deutlich auf.

Mit seinem Fokus auf Skandale und Kontroversen knüpft Van Damme an seine bereits erwähnte Arbeit zum Denken der französischen libertins an. In der Darstellung selbst bleiben das Profil der libertins érudits, ihr sozialer Hintergrund und ihre Motivationen indes vage. Gemeinsamer Nenner war laut Van Damme eine Kultur des Zweifels (S. 12) und das Hinterfragen der dominierenden missionarischen (insbesondere jesuitischen) und merkantilistischen Sicht auf kolonisierte (Wissens-)Räume. Um eine konsolidierte Gruppe mit kohärenten Positionen handle es sich jedoch nicht. Die beschriebenen subversiven Praktiken schließen damit textuelle Strategien der Distanzierung und Ironie in Reiseberichten und Utopien ebenso ein wie das materialistisch inspirierte Sammeln antiker erotischer Statuen im ausgehenden 18. Jahrhundert. Nichtsdestotrotz ist die vorgenommene Perspektivverschiebung auf umstrittene und den Absolutheitsanspruch der französischen Expansionsbestrebungen unterlaufende Positionen lohnend. So kann der Verfasser aufzeigen, wie skeptisches Denken in Institutionen der französischen Monarchie (Akademien, Bibliothèque du Roi, compagnie des Indes) einsickerte und neu entstehende Wissensordnungen prägte. Van Damme gelingt somit ein breites Panorama vormodernen kolonialisierungskritischen Denkens, das die vielfältigen Rückwirkungen der kolonialen Expansion auf europäische Wissenspraktiken facettenreich herausarbeitet.

1 Stéphane Van Damme, L’épreuve libertine. Morale, soupçon et pouvoirs dans la France baroque, Paris 2008.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lisa Kolb, Rezension von/compte rendu de: Stéphane Van Damme, Les voyageurs du doute. L’invention d’un altermondialisme libertin (1620–1820), Paris (Fayard) 2023, 368 p. (L’épreuve de l’histoire), ISBN 978-2-213-67854-2, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101532