Thomas Biebricher, seit 2022 Heisenberg-Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, ist ein ungemein produktiver Wissenschaftler. Nach mehreren Arbeiten zum Neoliberalismus kehrt er zu einem zweifellos verwandten Thema zurück, das ihn schon länger beschäftigt. 2018 hat er ein Buch über die »geistig-moralische Wende« in der Bundesrepublik vorgelegt, Untertitel: »Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus«. Nun folgt eine fulminante Studie über die Krise der Mitte/Rechtsparteien in Italien, Frankreich und Großbritannien, oder, genauer und dramatischer: die »Schwächung, Radikalisierung oder das völlige Verschwinden der Kräfte eines gemäßigten Konservatismus, deren angestammter Platz in der rechten Mitte zusehends verwaist« (S. 9). Das ist deshalb bedeutsam, weil sich hier, so die zugespitzt formulierte Grundannahme des Buches, das »Schicksal der liberalen Demokratie« entscheide (S. 17). Mit »gemäßigt« meint er einen Konservatismus, der in der Lage ist, sich mit sozioökonomischem Wandel pragmatisch zu arrangieren, extreme politische Polarisierungen zu vermeiden und gleichzeitig eine gewisse Stabilität zu garantieren. »Vergisst« der Konservatismus diese Prinzipien, droht er zwischen Liberalen und Rechtsautoritären zerrissen zu werden – oder durch Anverwandlung den Platz des rechtsautoritären oder ‑populistischen Rivalen einzunehmen. Seine »Verfallsgeschichte« in mehreren europäischen Ländern seit 1989/1990 bis in die Gegenwart liefert reichlich Anschauungsmaterial für diese These.

Nachdem er in einer fast 70-seitigen Einleitung das Forschungsfeld, die Arbeitshypothesen und die unterschiedlichen Formen des Konservatismus präsentiert hat, konzentriert sich Biebricher auf die Fälle Italien, Frankreich und Großbritannien. Ungeachtet mancher Unterschiede, die er mit spezifischen politischen Traditionen, Parteistrukturen oder Besonderheiten des Wahlrechts erklärt, identifiziert er doch auch viele Gemeinsamkeiten, insbesondere einen Trend zur Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte, eine starke Personalisierung und eine »Dämonisierung« der Europäischen Union. Eine »Kulturkampf-Strategie« habe den Vorteil, dass sie »wenig bis gar kein Geld« koste und »maximale Aufmerksamkeit vonseiten der Medien« (S. 580) verspreche. Nach dem Wegfall des Kommunismus sei die »Woke-Ideologie« (S. 583) als neues einigendes Feindbild »erfunden« und in Stellung gebracht worden. Die Bedeutung der Personalisierung exemplifiziert Biebricher erwartungsgemäß vor allem an Silvio Berlusconi, aber auch an Matteo Salvini, Nicolas Sarkozy oder Boris Johnson: an die Spitze von Mitte/Rechtsparteien gelangten mit einer »gewissen Regelmäßigkeit« Politiker mit dem Profil einer »kommunikativ versierten, ideologisch schillernden und bisweilen hemdsärmelig auftretenden Figur, die zu medialer Omnipräsenz neigt und die Sprache des Volkes spricht« (S. 565). Gemeinsam ist den drei Fallbeispielen schließlich auch die ablehnende Haltung, ja teilweise sogar Feindschaft gegenüber der EU: »Nirgendwo finden sich mittlerweile noch in nennenswertem Umfang proeuropäische Kräfte in den jeweiligen Parteien« (S. 578) – wobei, auf diesen Aspekt weist Biebricher ausdrücklich hin, »Frankreich und vor allem Italien die europäische Regelordnung als sehr reale Einschränkung ihrer wirtschafts- und finanzpolitischen Möglichkeiten« erlebten (S. 579). Die Behauptung freilich, der französische Staatspräsident und »distinguierte Sozialist« François Mitterand habe Bundeskanzler Helmut Kohl »das Bekenntnis zu einer gemeinsamen europäischen Währung« abgerungen (S. 226), wird in der Forschung zur europäischen Integration schon seit geraumer Zeit vehement bestritten.

Das Buch bietet eine farbige, anschauliche, detaillierte und mit ironischen Kommentaren gespickte Darstellung der Krise des Konservatismus in Europa, der Bedeutung parteipolitischer Dynamiken und der Machtspiele einzelner Politiker. Man versteht nach der Lektüre besser, warum und wie »halbseidene, unseriöse Spielertypen« mit »Gespür für mediale Logiken« und der unbedingten Bereitschaft zur »Inszenierung von Politik« (S. 487) in die Führungsetagen europäischer Mitte/Rechtsparteien gelangen konnten, die sich doch eigentlich als solide und mit einem klaren politisch-moralischen Kompass ausgestattet empfanden und immer noch empfinden. Gewissermaßen en passant wird außerdem daran erinnert, welche Rolle die »Revolution« der politischen Kommunikation in diesem Prozess spielt: Italiens Lega Nord beispielsweise wandelte sich zur »Medien- und Eventpartei«, ihr Chef Salvini, ein »Schwergewicht in dieser Sphäre der Öffentlichkeit«, brachte es bei Twitter auf stolze 1,4 Millionen Follower (S. 175). Keinen Zweifel lässt Biebricher allerdings daran, dass der von allen untersuchten Mitte/Rechtsparteien mehr oder weniger entschlossen eingeschlagene »Pfad des Kulturkampfes inklusive des Evergreens der Migrationspolitik und der Kritik an der doppelten Staatsbürgerschaft etc. steil nach rechts abfällt« (S. 608 f.). Es bleibt deshalb zu wünschen, dass dieses Buch in Deutschland – den dortigen Entwicklungen widmet Biebricher in der Zusammenfassung einige höchst aktuelle, treffende und bedenkenswerte Beobachtungen – viele aufmerksame Leserinnen und Leser finden möge.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Thomas Biebricher, Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus, Berlin (Suhrkamp) 2023, 638 S., ISBN 978-3-518-43099-6, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101576