Das Elsass (und mit ihm der deutschsprachige Ostteil Lothringens) geriet in den letzten beiden Jahrhunderten zusehends in einen Strudel sich übersteigernder antagonistischer Nationalismen in Europa. Zwischen 1871 und 1945 wechselte es viermal den Besitzer, wurde zum umkämpften Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland. In dem Maße, wie sich der Kampf um diese deutsch-französische Grenzregion zuspitzte, radikalisierten sich auch die hierbei von den Regierungen beider Staaten eingesetzten politischen Instrumente. Ziel war die in einem Europa der Nationalstaaten erwünschte rasche und völlige Assimilierung der grenzregionalen Bevölkerung in die jeweilige nationale Mehrheitsgesellschaft.

Neue Grenzverläufe zerschnitten ebenso bestehende Wirtschaftsräume wie sie durch die erzwungene Übernahme neuer Gesetze und Normen neue Abhängigkeiten in Gang setzten. Noch schwerwiegender waren die hieraus resultierenden zumeist zwangsweise abverlangten Migrations-, ja Vertreibungsprozesse, die in der Geschichte des Elsass wie auch der Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich bis heute Spuren hinterlassen haben. Welche Wirkungen sich daraus für die soziale Ordnung, das regionale Eigenbewusstsein und das nationale Selbstverständnis der elsässischen Bevölkerung ergeben haben, ist bis heute umstritten1.

Die historische Forschung vor allem (aber nicht nur) auf französischer Seite ist sich gerade in den letzten zehn Jahren dieses Desiderats zunehmend bewusst geworden. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Aufarbeitung der auf die Region des Elsass bezogenen sozialgeschichtlichen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, in Frankreich »la Grande Guerre« genannt, 100 Jahre nach seinem Ende 1918. Vor allem drei Institutionen sind hier zu nennen, die durch laufende eigene Forschungsaktivitäten wie auch durch die Forschungen jüngerer Autorinnen und Autoren, die sie vermehrt initiieren, zur Erweiterung des Kenntnisstands beitragen2.

Der in Kooperation mit dem Straßburger Departementalarchiv entstandene von Anne-Lise Depoil, conservatrice du patrimoine an den Archives départementales du Bas-Rhin, und Ségolène Plyer, Dozentin an der Université de Strasbourg, herausgegebene Sammelband reiht sich in diese Linie ein und erhebt den Anspruch, eine Art Zwischenfazit der Diskussion zu ziehen. Er ist das Produkt eines Anfang 2019 stattgefundenen Kolloquiums zum Thema »Das Elsass und die Wende von 1918 – Vertreibungen, Mobilitäten und Migrationsprozesse«3.

Die 14 Artikel der insgesamt 16 überwiegend jungen Autorinnen und Autoren nehmen den großen Zeitraum zwischen Deutsch-Französischem Krieg 1870/1871 und den 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den Blick. Doch konzentrieren sich, bis auf zwei Ausnahmen, eigentlich sämtliche Beiträge ausschließlich auf die Zeit 1918–1939, also die zwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen. Der Ertrag des Buches vermag also den im Buchtitel vollmundig angekündigten Anspruch einer migrationshistorischen Längsschnittanalyse nur partiell einzulösen.

Immerhin gelang es den Herausgeberinnen, für den Band ein international besetztes Autorenteam zusammenzuführen: an erster Stelle natürlich aus Frankreich und zahlreich auch aus Deutschland, beide Male fast immer mit unmittelbarem regionalem Bezug zu den Grenzregionen Lothringen, Elsass und Südwestdeutschland – aber auch aus Großbritannien oder Kanada. Diese Vielfalt bietet erstens den Vorteil des gewünschten und auch nötigen multiperspektivischen Zugriffs. Davon konnte mit Blick auf die Erforschung gerade der jüngeren elsässischen Geschichte lange Zeit nicht die Rede sein, weil das Sujet traditionell eher von der Landesgeschichte besetzt war. Zweitens verweist sie einmal mehr auf die seit langem bestehende, fast schon sprichwörtlich gewordene angelsächsische Affinität zur Geschichte des Elsass4.

Inhaltlich stehen primär zwei Aspekte im Fokus: zum einen die Auswirkungen der durch die Grenzrevisionen hervorgerufenen Bevölkerungsbewegungen nach 1871 und 1918; zum anderen die Frage der Neudefinition nationaler Identität im Zeichen der von den jeweiligen Akteuren Deutschland oder Frankreich vorgegebenen regionalen bevölkerungspolitischen Direktiven. Integration durch Anpassung an die Kultur des Aufnahmelandes – bei gleichzeitiger Bewahrung der eigenen Identität, haben die Herausgeberinnen diesen Abschnitt überschrieben5. Es kommt also ein »interkulturell« verstandener Integrationsansatz zum Tragen, wie er in der gegenwärtigen Zuwanderungsdebatte diskutiert wird.

Einen in diesem Kontext bislang weniger bekannten eigenen Teilaspekt bildet die Einwanderung polnischer bzw. polnischstämmiger Bergarbeiter nach dem Ersten Weltkrieg in die Kohle- und Kaliumgebiete Nordfrankreichs und im Oberelsass (Mulhouse). Sie kamen aus der 1918 neu entstandenen Republik Polen sowie aus der Tschechoslowakei und Italien (Yves Frei) bzw. als westfälische »Ruhrpolen« aus dem Ruhrgebiet (Anne Friedrich). Als gefragte Arbeitsmigranten trugen sie dazu bei, den Arbeitskräftemangel im geburtenschwachen Siegerland Frankreich abzumildern, während Deutsche als jetzt unerwünschte Ausländer das Elsass verlassen mussten.

Abgerundet werden die beiden Hauptthemenschwerpunkte durch zwei Beiträge: einmal zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung des Elsass – angesichts eines nicht erst seit 1933 grenzüberschreitend wachsenden Antisemitismus (Erin Corber). Zum anderen nimmt eine vergleichende Lokalstudie am Beispiel der unmittelbar an der Grenze gelegenen Kleinstädte Wissembourg/Weißenburg (Unterelsass) und Bruneck/Brunico (Südtirol) nach 1918 den alltäglichen Umgang mit nationaler Identität vor Ort ins Visier (Bettina Gartner, Ségolène Plyer). Unter der Rubrik »Témoignages/Zeitzeugnisse« bilden schließlich zwei Kurzberichte den Abschluss des Sammelbands. Es geht hier erstens um die Ausstellungsreihe des Dreiländermuseums in Lörrach »1918–1919 am Oberrhein – die Wende«, die an 30 grenznahen Orten in Frankreich, Deutschland und der Schweiz gezeigt wurde (Markus Möhring), sowie zweitens den Dokumentarfilm »Die grüne Grenze/le Liseré vert« (Gilles Weinzaepflen).

Gewissermaßen ein »Klassiker« der deutsch-französischen Geschichte des Elsass im 20. Jahrhundert wird gleich in vier Artikeln angesprochen: die Vertreibung der sogenannten »Altdeutschen« 1918/1919, also der nach 1871 ins Elsass gekommenen oder als deren Nachkommen dort geborenen deutschen Einwanderer, sowie deren Aufnahme und revisionspolitische Aktivitäten in der benachbarten südwestdeutschen Grenzregion in der Weimarer Republik.

Die hinter dieser Vorform einer »ethnischen Säuberung« stehenden politischen Absichten beleuchten die beiden Beiträge von Joseph Schmauch und Axel Dröber, die sich hierbei auf die Auswertung umfangreicher Quellenbestände in französischen Archiven stützen. Sie kommen zu dem Schluss, dass es die Administration des Siegerlandes Frankreich war, die es bei der Neudefinition von französischer Nationalität im wiedergewonnenen Elsass-Lothringen als besonders wichtig erachtete, selbst festzulegen, wer aus der nationalen Gemeinschaft als »assimilierungsunfähig« oder sogar Gefahr für die öffentliche Sicherheit zukünftig auszuschließen war. Der völlige Misserfolg dieser kurzsichtigen Selektionspolitik offenbarte sich auch bald in dem Aufkommen einer breiten, über Parteigrenzen hinweg sich organisierenden gegen Paris gerichteten elsässischen Autonomiebewegung um die Mitte der 1920er-Jahre.

Die trotz Wohnungsnot und vielfältiger wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf lange Sicht geräuschlose Aufnahme von über 100 000 »Altdeutschen« im benachbarten »Grenzland« Baden arbeitet Angela Borgstedt, Geschäftsführerin der Forschungsstelle Widerstand an der Universität Mannheim und erfahrene Kennerin der badischen Landes- und Zeitgeschichte, anhand der einschlägigen Akten im Generallandesarchiv Karlsruhe auf.

Den vor allem nach Südwestdeutschland und in den Rhein-Main-Raum abgewanderten Flüchtlingen gelang es sofort nach Kriegsende 1918/1919, sich verbandsmäßig zu reorganisieren. Unter der Leitung des kurz zuvor mit seiner Familie aus dem Elsass geflüchteten Robert Ernst (1897–1980) und dessen Freunds und Mitkämpfers Karl Brill (1894–1978) entstand ein von der Universität Tübingen aus gelenkter »Verband Elsass-Lothringischer Studentenbünde«, der fortan als Pressure-Group im Kampf gegen die französische Naturalisierungspolitik im Elsass fungierte (Raphaël Fendrich; Christiane Kohser-Spohn). Für den jungen Volkswirtschaftler Ernst war diese Wende in die Politik zugleich die erste Station auf dem Weg in die elsässische »Volkstumspolitik« der Zwischenkriegszeit – eine Karriere, die ihn später an die Seite der nationalsozialistischen De-facto-Annexionisten des Elsass führen sollte.

Mit Blick auf diese Studie ist allerdings anzumerken, dass sich die beiden ausgewiesenen Elsass-Experten bei ihren Ausführungen leider weitgehend auf zum Teil ältere Literatur sowie die sicher informative, aber quellenkritisch problematische Rechtfertigungsschrift Ernsts aus der Zeit nach 1945 stützen6. Im Anmerkungsapparat aufgeführte, also bekannte ertragreiche Aktenbestände im Universitätsarchiv Tübingen (S. 161, Anm. 9) bzw. in der Universitätsbibliothek Frankfurt (S. 164, Anm. 17) wurden offenbar kaum genutzt. So liefert dieser wichtige Beitrag wenig neue Erkenntnisse.

Als Fazit lässt sich sagen, dass die inhaltliche Konzeption des Sammelbandes in ihrer Breite wie im Ganzen sicher gelungen ist und in punkto Zwischenfazit hinsichtlich der angesprochenen Sachthemen mit Recht ein großes Ausrufezeichen gesetzt werden darf. Dennoch ist zu bedauern, dass das im Ansatz gute Längsschnittkonzept der beiden Herausgeberinnen, vermutlich aus forschungspragmatischen Gründen, schon mit den 1930er‑Jahren endet, vor allem weil die Jahre 1939/1940, und dies erst recht bevölkerungspolitisch, keine Zäsur, sondern eher einen Übergang darstellen. So bleiben grenzüberschreitend wie zahlenmäßig bedeutsame, weil miteinander in Verbindung stehende Bevölkerungsbewegungen im Zeitraum 1939–1945 leider unberücksichtigt.

Dazu zählen 1. die »Freimachung« der Grenzregionen im ersten Kriegsjahr 1939/1940, die auf französischer wie deutscher Seite Hunderttausende von Menschen betraf und von der Zivilbevölkerung hier wie dort erhebliche materielle Opfer verlangte, sowie die nur teilweise erfolgreichen deutschen Versuche zur »freiwilligen« Rückführung der Elsässer ein Jahr später; 2. die im Kontext der nationalsozialistischen »Volkstumspolitik« Ende 1940 erfolgte Deportation der jüdischen Bevölkerung Badens und des Elsass nach Südwestfrankreich, der vor allem ältere Menschen zum Opfer fielen, sowie die damit zusammenhängende Ausweisung von als »politisch unzuverlässig« oder »rassisch minderwertig« geltenden Elsässern nach Innerfrankreich; 3. die Verlegung des nahezu kompletten Lehrkörpers der Université de Strasbourg nach Clermont-Ferrand im Zuge der Evakuierung (und seine Rückführung 1944/45), während mit großem Aufwand ab 1941 eine »Reichsuniversität Straßburg« aufgebaut wurde; oder 4. die zwangsweise, vom Völkerrecht nicht gedeckte Einberufung von Zehntausenden elsässischen Männern zum Dienst in der deutschen Wehrmacht ab 1942, den viele mit dem Leben bezahlten und der bei nicht wenigen später zu mitunter lebenslang anhaltenden Identitätskrisen führte (»Malgrés-nous«).

Recht ärgerlich ist auch, dass die Namen der Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge erst immer wieder durch mühsames Blättern der Seiten in Erfahrung gebracht werden müssen, weil sie im (für französische Verhältnisse einmal praktischerweise zu Beginn des Buches enthaltenen) Inhaltsverzeichnis nicht aufgeführt sind. So entsteht bei oberflächlichem Hinsehen zu Beginn der Lektüre der Eindruck, dass Anne-Lise Depoil und Ségolène Plyer sämtliche Beiträge selbst verfasst hätten. Die gut gegliederte Auswahlbibliografie am Ende hilft zwar bei der Literatursuche, doch würde ein Personenverzeichnis das Arbeiten mit den thematisch so vielfältigen Beiträgen des Buches noch mehr erleichtern.

1 Dazu jetzt der innovative Ansatz bei François Uberfill, La société strasbourgeoise entre France et Allemagne (1871–1924). La société strasbourgeoise à travers les mariages entre Allemands et Alsaciens à l’époque du Reichsland. Le sort des couples mixtes après 1918, Strasbourg 2001.
2 Die Fédération des sociétés d’histoire et d’archéologie d’Alsace mit ihrer Zeitschrift »Revue d’Alsace«; das Institut du droit local alsacien-mosellan sowie das universitäre Institut d’histoire d’Alsace, beide mit Sitz in Straßburg. Letzteres feierte 2019 seinen 100. Geburtstag.
3 Laboratoire Arche (UR 3400), »L’Alsace et le tournant de 1918. Expulsions, mobilités, migrations«, 16.–18. Januar 2019.
4 Dazu beispielhaft: Philip Charles Farwell Bankwitz, Alsatian Autonomist Leaders 1919–1947, Lawrence 1978; Christopher J. Fischer, Alsace to the Alsacians? Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1870–1939, New York/Oxford 2010; neuerdings Aisling Shalvey, Children’s Medicine at a Bastion of Nazi Ideology, Exeter 2023.
5 »Être migrant en Europe Rhénane dans l’entre-deux-guerres: adapter sa culture, maintenir son identité«.
6 Vgl. Robert Ernst, Rechenschaftsbericht eines Elsässers, Berlin 1954.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hubert Roser, Rezension von/compte rendu de: Anne-Lise Depoil, Ségolène Plyer (dir.), Frontière, migrations et mobilités en Alsace de 1870 aux années 1930, Strasbourg (Presses universitaires de Strasbourg) 2021, 334 p. (Études alsaciennes et rhénanes), ISBN 978-2-86820-759-3, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101579