Vor 70 Jahren wurde in Kassel mit der Treppenstraße eine der ersten Fußgängerzonen in Deutschland eingerichtet. Die Idee, Menschen dazu zu bringen, vor Ort in einer verkehrsberuhigten Zone zu Fuß einkaufen zu gehen, funktionierte und fand ab den 1950er-Jahren zahlreiche Nachahmer. 70 Jahre später sind zahlreiche Innenstädte vom Leerstand bedroht. Die Fußgängerzone scheint heute ihre Funktion als Konsum- und Kommunikationsraum verloren zu haben.

Die Geschichte der Fußgängerzonen hat nun Cédric Feriel in einer umfangreichen Studie ab den 1930er-Jahren auf der Ebene verschiedener mittelgroßer Städte in Europa und den USA nachgezeichnet. Während Großwohnsiedlungen, die autogerechte Stadt und neue suburbane Räume im Umfeld von Metropolen als Besonderheiten der modernen Stadtgeschichte gelten, wurden Fußgängerzonen bisher seltener berücksichtigt1. Cédric Feriels Dissertation hinterfragt nicht nur die herausragende Stellung des Automobils nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigt auch, dass die Fußgängerzone keine Erfindung der 1970er-Jahre ist, sondern auf kommunaler Ebene bereits seit den 1930er-Jahren angedacht wurde. Die Besonderheit der Studie ist, dass die Akteure der Aushandlung der modernen Stadt nicht der Staat und nationale Planungsbüros sind, sondern urbane Eliten und kommunale Vertreter auf lokaler Ebene. Feriel gelingt es damit, eine Geschichte der Urbanisierung aus einer kommunalen Perspektive heraus zu erzählen. Bewusst werden »sekundäre Metropolen« (S. 17) wie Essen, Rouen, Norwich oder Minneapolis in den Fokus gerückt.

Die Studie, die auf umfangreichen Archivrecherchen in Frankreich und Großbritannien sowie auf gedruckten Quellen aus Europa und den USA beruht, erzählt chronologisch in vier Kapiteln die Entwicklung der Fußgängerzonen von den 1930er- bis in die 1980er-Jahre. Erste Ideen hatten bereits ab den 1930er-Jahren bestanden, wurden jedoch, wie im britischen Coventry, erst realisiert, nachdem die Innenstädte durch den Zweiten Weltkrieg massiv zerstört worden waren (S. 42). 1959 entstanden zeitgleich in Kalamazoo in Michigan und mit der Kettwigerstraße in Essen erste größere Fußgängerzonen, allerdings mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen: während in den USA Fußgängerzonen oft als Teil eines Einkaufszentrums geplant wurden, um die leerstehenden Innenstädte der 1950er-Jahre wiederzubeleben, sollten in Europa die kriegszerstörten Stadtzentren wiederbelebt werden und offene Flaniermeilen mit einzelnen Geschäften entstehen. Der kritische Bericht von Colin Buchanan 1963 über den Automobilverkehr in Großbritannien, der international rezipiert wurde, förderte zusätzlich die Errichtung von Fußgängerzonen. So werden die Fußgängerzonen in Norwich 1967 und in Rouen 1970 zu Vorbildern in Großbritannien und Frankreich. Neben Vertretern des Stadtrats waren die Geschäftsinhaber in den Innenstädten entscheidend für die Umsetzung der Fußgängerzonen und ließen sich meist zögerlich nach temporären Versuchen nach und nach auf das Experiment ein. Ab den 1970er-Jahren wurden die bestehenden Fußgängerzonen zunehmend kritisiert: Fußgänger sollten nicht auf eine einzelne Straße beschränkt werden, sondern, wie es der Architekt Paulhans Peters in der Bundesrepublik 1977 forderte, sich in einer »Fußgängerstadt« (S. 244) überall in Sicherheit bewegen können. Kritisiert wurde die Monofunktionalität, die soziale Segregation und die standardisierte, austauschbare urbane Landschaft der bestehenden Fußgängerzonen. Die Ausweitung von Fußgängerzonen in Außenbezirke der Stadt wurde wie in Hannover, Wien und Köln vorangetrieben. Statt einer einzelnen Fußgängerstraße sollte vielmehr ein ganzer Bezirk zu einer fußgängerdominierten Zone werden. Pilotprojekte in Delft und Emmen ab 1974 zeigen die Tendenz, die Zukunft nicht nur im Konsum alleine, sondern in einer Mischfunktion aus Freizeit, Wohnen, Arbeit und Einkaufen in einem Bezirk mit Priorität für Fußgänger zu suchen. Ab den 1980er-Jahren wandten sich Strategien der kommunalen Stadtplanung von einzelnen Fußgängerzonen ab und hin zu offenen Räumen und Spazierrouten in der gesamten Stadt (S. 249).

Die Besonderheit der Studie liegt in der Analyse der Fußgängerzonenpolitik mittelgroßer Städte in Europa und den USA. Feriel verknüpft geschickt Forschungen und Quellen aus den USA und Europa in chronologischer Reihenfolge. So wird die politische Instrumentalisierung von Fußgängerzonen deutlich: etwa als 1968 die Einrichtung einer Fußgängerzone erfolgreich die Bemühungen um den Denkmalschutz der historischen Altstadt in Bologna einleitete. Auch war die Einrichtung von Fußgängerzonen in New York 1970 für den Bürgermeister John Lindsay der Beginn einer ökologischen Transformation, er sollte jedoch an der Kritik des Einzelhandels und der Handelskammer scheitern. Beachtenswert ist neben einem Kapitel zur Inszenierung der Fußgängerzonen über Bilder und Fotografien (Kapitel 10) ein Exkurs zur Umsetzung von Fußgängerzonen in den sozialistischen Ländern Osteuropas (S. 212–217). Ebenso wie in Westeuropa entstanden in den 1960er-Jahren in Ost-Berlin, Rostock, Budapest, Warschau oder Krakau Fußgängerbereiche. Die Inwertsetzung von historischen Innenstädten durch verkehrsberuhigte Zonen, das Design der Straßen und die dicht aneinandergereihten Geschäfte und Cafés scheinen der Entwicklung in Westeuropa zu ähneln, wenn auch mit weniger Werbung und Werbeschilder an den Außenflächen. Die Erforschung der Politik der Fußgängerbereiche in Osteuropa und die Einbettung in eine gesamteuropäische Entwicklung steht gemäß Cédric Feriel bisher noch aus (S. 214).

Die Studie Cédric Feriels stellt überzeugend die Aushandlungsprozesse um die Einrichtung von Fußgängerzonen in Europa und den USA dar und bettet den auf den ersten Blick radikalen fußgängerorientierten Wandel der Städte in den 1970er-Jahren überzeugend in eine längere Entwicklung seit den 1930er-Jahren ein. Bisweilen fällt es schwer, den Überblick bei den zahlreichen Fallbeispielen aus Europa und den USA zu behalten und einzelne Akteure über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Doch ist Feriels Untersuchung eine nützliche Studie, die auf das unterschätzte Thema des Fußgängers in urbanen Räumen des 20. Jahrhunderts aufmerksam macht und durch den transatlantischen Vergleich die Spezifika der Epoche in Stadtplanung, zivilgesellschaftlichem Engagement und Ökologie überzeugend herausarbeitet.

1 Vgl. Ulrich Brinkmann, Achtung vor dem Blumenkübel! Die Fußgängerzonen als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in Ost- und Westdeutschland 1949 bis 1989, Berlin 2020; Jan Logemann, Trams or Tailfins? Public and Private Prosperity in Postwar West Germany and the United States, Chicago 2012.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Daniel Hadwiger, Rezension von/compte rendu de: Cédric Feriel, La ville piétonne. Une autre histoire urbaine du XXe siècle?, Paris (Éditions de la Sorbonne) 2022, 303 p., 79 ill. (Homme et société, 71), ISBN 979-10-351-0804-5, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101583