Max Webers zwei Aufsätze mit dem gemeinsamen Titel: »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« aus den Jahren 1904 und 1905 gehören zu den Schlüsseltexten der historischen Sozialwissenschaft, und zwar vor allem in der letzten Fassung von 1920 und mitsamt den von Weber zwischen 1907 und 1910 veröffentlichten »Antikritiken«. Sowohl das Thema – also die Frage nach dem Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus: Haben wir es mit einer Kausalbeziehung oder eher mit Wechselwirkungen zu tun? – als auch die Methode der »idealtypischen« Analyse sorgten über Jahrzehnte hinweg für Kontroversen, eigentlich bis heute. Geradezu symptomatisch ist insofern, dass die betreffenden Bände in der großen Max-Weber-Gesamtausgabe erst 2014 und 2016, und damit quasi als letzte, erscheinen konnten. Sogar die Herausgeber und Spezialisten waren sich nicht einig.
Obwohl Webers Protestantismusaufsätze erst 1964 von Jacques Chavy ins Französische übersetzt wurden, während eine englische Ausgabe (von Talcott Parsons) bereits 1930 erschien, setzte die französische Rezeption schon bald nach dem Ersten Weltkrieg ein. Ihre genaue Rekonstruktion eröffnet daher die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum die wechselvolle Geschichte von frankophoner Soziologie und Geschichtswissenschaft aus der »idealtypischen« Perspektive dieses einen Buches und seines Autors zu betrachten. Genau dem widmet sich das vorliegende Buch von Vincent Genin, das seinerseits an frühere Studien von Michael Pollak (»Max Weber en France«, 1986) und Monique Hirschhorn (»Max Weber et la sociologie française«, 1988) anknüpfen kann1. Doch heute ist die Quellenbasis sehr viel breiter – viele Briefwechsel konnten erstmals berücksichtigt werden – und auch die Fragestellung ist umfassender: Es geht hier um Kultur- und Wissenstransfer, um Übersetzungsfragen und akademische Berufungsverfahren, um Konkurrenzverhältnisse – und natürlich auch: um die angemessene Lektüre eines mittlerweile kanonisierten und trivialisierten Textes, den jeder und jede zu kennen behauptet.
Genin hat sein Buch weitgehend chronologisch angelegt, aber nicht ohne vorher einige seiner Karten (Werturteile) auf den Tisch zu legen. So ist die »Protestantische Ethik« für ihn der allerwichtigste Text, und es gilt, in seiner zögerlichen französischen Rezeption jeweils Blockaden, Versäumnisse und Chancen zu erkennen. Noch immer werde Weber in Frankreich viel zu wenig rezipiert, und zumal die Historiker »n’ont pas encore l’envie, l’opportunité ou le courage de s’approprier pleinement, et à pleines mains, au-delà de sa méthode, la thèse de Max Weber« (p. 30).
Alles beginnt 1925 mit einem längeren Rezensionsaufsatz von Maurice Halbwachs, dem Universalgelehrten unter den Durkheimianern, der in der Straßburger »Revue d’histoire et de philosophie religieuses« erscheint. Dann folgten Kommentare von Henri Sée und Henri Hauser, beide Spezialisten für die frühneuzeitliche Wirtschafts-, Sozial- und Ideengeschichte. Obwohl jüdischer Herkunft, interessierten sie sich besonders für den französischen Protestantismus, der ja bis in die Gegenwart, als Minderheit, eine wichtige Rolle spielt. Und beide, ebenso wie Halbwachs und eher beiläufig auch Lucien Febvre, fanden Webers »These« zwar interessant, zweifelten aber an ihrer allgemeinen Gültigkeit. Hatten die Katholiken, angefangen bei den Medici und den Fuggern, nicht genauso zum Aufschwung kapitalistischer Praktiken beigetragen?
Dann schlug die Stunde eines jungen Philosophen und Soziologen namens Raymond Aron, der sich von der dominanten Durkheim-Schule (damals unter anderem vertreten durch Marcel Mauss, François Simiand und Halbwachs) zu befreien suchte und dafür die »verstehenden« deutschen Kulturwissenschaften für sich entdeckte. Max Weber erschien ihm als ideale Synthese von »systematischer« und »historischer« Soziologie. Dass man damit auch gegen den Marxismus argumentieren konnte, zumal in seiner kommunistisch-dogmatischen Form, wurde spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich.
Aber dennoch kam es laut Genin nie zu einem »grand mouvement wébérien en France« (p. 180), weil die Historiker – und um die geht es ihm – mit ihrer »Mentalitätengeschichte« über eine durkheimianisch begründete Alternative verfügten. Symptomatisch ist hier die Haltung von Robert Mandrou, ehemals Sekretär der »Annales« und ausgewiesener Kenner der deutschen Sozial- und Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. In einer langen Rezension rückte er 1966 in der »Revue historique« die Bedeutung der »Weber-These« zurecht; auch sie müsse historiografisch relativiert und »entzaubert« werden. Ganz ähnlich argumentierte der Schweizer Historiker Herbert Lüthy, der über die protestantischen Bankiers im Frankreich des 18. Jahrhunderts arbeitete und anschließend in Bezug auf Weber resümierte: »Le protestantisme n’a ni déterminé l’évolution économique ni été déterminé par elle. Il n’y a aucune corrélation entre la conviction religieuse des hommes de la Réforme et le comportement pratique de l’industriel de Manchester ou de Pittsburgh« (p. 211).
So ist die Bilanz dieser »enquête historiographique« (p. 247) am Ende für den Autor etwas frustrierend, denn »il faut admettre que les historiens que j’ai étudiés n’avaient ni l’intérêt ni l’arrière-plan intellectuel adéquat pour engager une lecture complexe de ›L’Éthique [protestante]‹« (p. 233). Einen Grund dafür sieht er darin, dass man hinter Webers These vorschnell die Behauptung einer Überlegenheit des Protestantismus vermutet habe. Auch die theoretischen Ambitionen von Weber (oder Sombart oder Troeltsch) weckten bei seinen französischen Kollegen Misstrauen. Sogar ein Kenner wie Halbwachs, den Genin allerdings fälschlich als »germanophil« bezeichnet, hatte eine Abneigung gegen deutsche »Metaphysik«, während Weber den Franzosen gerne einen Hang zu »Naturalismus« und »Positivismus« vorwarf. So redete man aneinander vorbei.
Kritisch ist anzumerken, dass dieses materialreiche Buch, das sicher zu weiteren Studien anregen wird, sich nie wirklich entscheiden kann, ob es gründliche Rezeptionsforschung oder nur einem neugierigen Publikum einen lockeren Essay bieten will. Allzu oft springt der Autor wie ein Schmetterling von Blüte zu Blüte, die ihm alle irgendwie wichtig erscheinen, oder lässt sich zu Spekulationen verleiten, wie es denn gewesen sein könnte, obwohl man es gar nicht genau weiß. Dass Mandrou zum Beispiel in der »Revue historique« nur ein Dutzend Leser gehabt habe (S. 187), ist ebenso irrelevant wie lächerlich. Auch dass Fernand Braudel Weber »nicht gelesen« habe (S. 222–224), obwohl er ihm im 2. Band von »Civilisation matérielle, économie et capitalisme« ein ganzes Kapitel widmete, ist allzu keck. Und schließlich gibt es für die nicht ganz neue Behauptung, Marc Bloch sei ein »bon connaisseur« von Weber gewesen (S. 125), bis heute keinen hinreichenden Beweis, und Genin versucht auch gar nicht erst, einen zu finden. So könnte man noch viele Beispiele nennen, wo offenbar der Wunsch des Autors nach möglichst vielen »Belegen« seinem unfreiwilligen Helden – und auch sich selbst – eher einen Bärendienst erweist. Und tiefsinnige Sätze wie »il y a quelque chose de la perte de soi chez certains wébériens, surtout chez ceux qui en refusent l’épithète« (S. 215), werfen die bange Frage auf, ob sich hier die »Weberei« nicht mal wieder in den eigenen Schwanz gebissen hat.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Schöttler, Rezension von/compte rendu de: Vincent Genin, »L’Éthique protestante« de Max Weber et les historiens français (1905–1979), Turnhout (Brepols) 2022, 283 p. (Bibliothèque de l’École des Hautes Études, Sciences Religieuses, 191), ISBN 978-2-503-59784-3, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101584