Zunehmend setzen sich kultur-, alltags- und gesellschaftshistorische Forschungen zu Grenzen und Grenzregionen nicht nur mit diplomatischen Grenzziehungen oder Grenzlandaktivismus, sondern vielmehr mit Praktiken der Grenzherstellung und -kontrolle und den damit verbundenen Erfahrungen und Symbolisierungen auseinander – so auch die sehr lesenswerte Studie von Johannes Großmann. Zudem trägt »Zwischen Fronten« zu einer transnationalen Geschichte des Nationalsozialismus bei, in der die deutsch-französische Grenzregion das Zentrum darstellt. Die Habilitationsschrift befasst sich mit der größten systematischen Evakuierungsaktion zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Sie fokussiert dabei auf bislang wenig beachtete Aspekte wie die Mikroökonomie des Alltags, Teilhabe und Ausgrenzung sowie den Übergang von Frieden zu Krieg im Sinne einer »gesellschaftlichen Mobilmachung« (S. 20).
Bereits die Gliederung besitzt analytisches Potenzial, indem sie sich an Henri Lefebvres Theorie der dreifachen sozialen Produktion des Raumes orientiert und Praktiken, Konzeptualisierungen und Bilder der Grenzregion in den Blick nimmt. Im ersten Teil »Vorkriege« geht es zunächst um geografisch-politische Konzepte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: den »Kampf um Raum« (Ratzel), die Rolle des Elsasses und Lothringens und die Idee von Grenzräumen als Kriegsschauplätzen (Haushofer). Anders als viele bisherige Arbeiten verbleibt Großmann nicht auf der Diskursebene1, sondern zeichnet die Umformung der Grenzregion durch den Festungsbau (Westwall und Maginotlinie) nach, der auch durch den massiven Zuzug von Arbeitern die Struktur der Grenzbevölkerung grundlegend veränderte sowie zu Eingriffen in Eigentumsrechte und neuen Loyalitätsfragen führte: Während in Frankreich vor allem Festungsarbeiter und eingebürgerte Franzosen unter Spionageverdacht standen und in beiden Ländern Prostitution bekämpft wurde, wurde in Deutschland die Verfolgung von Sinti und Roma ausgeweitet sowie das Konzentrationslagersystem in der Region ausgebaut.
Von den Plänen zur Evakuierung geht das Buch im zweiten Teil »Binnenkriege« chronologisch zur Logistik der Mobilität über. 1,2 bis 1,6 Millionen Menschen gelangten ab September 1939 vorranging in den französischen Südwesten beziehungsweise nach Thüringen und trugen so den Kriegsbeginn sichtbar ins Landesinnere. Großmann stellt dar, wie der Aufbruch die Grenzregion zu einer Männergesellschaft aus Soldaten, Arbeitern und Sicherheitskräften und auch ökologisch zu einer »wilden Landschaft« (S. 196) werden ließ. Während in Frankreich militärische Belange, logistische Anforderungen und humanitäre Gesichtspunkte bei der Evakuierung aufeinander abgestimmt waren, führte in Deutschland eigenmächtiges Handeln der Parteiführung auf lokaler und regionaler Ebene zu einem planlosen Ablauf der Räumung. Detailreich geht Großmann auf die Evakuierungsgesellschaft aus überwiegend Frauen, Kindern und älteren Menschen sowie auf staatliche und kirchliche Fürsorgemaßnahmen ein. Trotz der Rhetoriken von union sacrée und »Volksgemeinschaft« kam es bei der Aufnahme durch Departements und Kommunen zu Konflikten zwischen Evakuierten und Einheimischen. Zudem trieben die Evakuierungen Maßnahmen gegen »unerwünschte Ausländer« in Frankreich sowie die Exklusion von Jüdinnen und Juden und behinderten Menschen im NS-Staat voran.
Der dritte Teil »Grenz(t)räume« bezieht sich auf Bilder der Grenzregion, womit zunächst katholische Heimat- und völkische Grenzlanddiskurse gemeint sind, wie sie in den deutschen Aufnahmegebieten gepflegt wurden. Bei der Rückkehr der Grenzbevölkerung nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 wurde die Region zu einem Laboratorium sozialräumlicher Neuordnung, das auf Bildern des Elsasses und der Moselle als deutschen Kulturlandschaften, zugleich aber auch als einem formbaren »leeren Land« (S. 375) basierte. In »Heimkehrerlagern« überprüften Kommissionen die »Volkstumszugehörigkeit« und Politiken gegenüber »Asozialen«, katholischen Geistlichen oder »Zigeunern« wurden verschärft. Das letzte Kapitel greift die verschiedenen Phasen der Erinnerung an die befestigte Grenzregion auf, die schon zeitgenössisch einsetzte, in den 1970er-Jahren zu einer Musealisierung führte und seit der Jahrtausendwende touristischer geworden ist, ohne jedoch aus der Region ein Symbol deutsch-französischer Aussöhnung zu machen.
Eindrücklich beschreibt Großmann in »Zwischen Fronten« die Evakuierungen als Katalysator für die Radikalisierung eugenischer und antisemitischer Maßnahmen und Praxistest für Bevölkerungstransfers sowie die Eingliederung eroberter Territorien2. Die Studie ist überwiegend vergleichend angelegt, transnational ist sie insofern, als dass der Fokus auf die Grenzregion nicht nur Verschränkungen lokaler, regionaler und nationaler Dynamiken und Handlungsebenen, sondern auch grenzüberschreitende Wechselwirkungen sichtbar werden lässt. Auch Rückkopplungen der äußeren Expansion auf die »volksgemeinschaftliche« In- und Exklusion lassen sich so fassen. Wünschenswert wären mehr Ausführungen zu den grenzüberschreitenden Bezügen der Grenzbevölkerung gewesen, ihren alltäglichen ökonomischen, religiösen, familiären oder kulturellen Netzwerken sowie der Nutzung des gemeinsamen borderland3 und wie diese Verflechtungen durch die Evakuierungen unterbrochen oder auch aufrechterhalten wurden. Und auch wenn Großmann immer wieder die Uneinheitlichkeit der Grenzbevölkerung (auch dank einer konsequenten geschlechtergeschichtlichen Perspektive) betont, lassen sich die (eigensinnigen) Handlungen und Motivlagen gegenüber den staatlichen Politiken, gerade im Verhältnis von sich Entziehen und Zustimmen, nicht immer nachvollziehen: So etwa wenn der Krieg für die »überwiegende Mehrheit der Grenzbevölkerung […] keine Auseinandersetzung mit ihren Nachbarn jenseits der Grenze«, sondern »ein Unheil« gewesen sei (S. 349) und sich zugleich die Zustimmung der Evakuierten zum NS-Regime auf dem Höhepunkt befunden habe (S. 378).
Johannes Großmann hat eine umfangreiche Studie auf einer beeindruckenden Quellenbasis aus überregionalen, regionalen, lokalen und kirchlichen Archiven, zu der Zeitungen, Belletristik, Tagebücher, Ortschroniken und eine Vielzahl anderer Quellen hinzukommen, vorgelegt. Ihr Verdienst liegt insbesondere darin, die gesellschaftliche Produktion des Grenzraumes in ihrer Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit herauszuarbeiten und so auf verschiedenen Ebenen nachzuzeichnen, wie sich der Eintritt in den Krieg räumlich darstellte: in der Materialität von Festungsanlagen, den Plänen und logistischen Räumen wie der »roten Zone«, in den staatlich gelenkten Bewegungen, den Imaginationen als »Heimat«, »Schutzschild«, oder »völkischer Schutzwall« und den (gewaltsamen) Praktiken der Raumordnung. Die Studie überzeugt in ihrer anschaulichen Darstellung der politischen, sozialen, ökonomischen und auch ökologischen Bedingungen der Evakuierungen. Auf diese Weise macht Großmann prägnant vor, was ein Fokus auf Grenzen leisten kann, um nicht nur Grenzregionen und (Zwangs)Mobilität, sondern gesellschaftliche Transformationsprozesse insgesamt zu verstehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sarah Frenking, Rezension von/compte rendu de: Johannes Großmann, Zwischen Fronten. Die deutsch-französische Grenzregion und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, Göttingen (Wallstein) 2022, 600 S., 10 Abb. (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 34), ISBN 978-3-8353-5210-0, EUR 48,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101585