Das vorliegende Werk rekonstruiert anhand einer Fülle von Quellenbeständen aus drei Ländern und zahlreichen Archiven sorgfältig die Lebensgeschichte Gaston Drehers. Sein Werdegang ist der eines Straftäters, der 1944 aufgrund seiner jüdischen Herkunft zum Opfer wurde und von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt, die jeweils einen Abschnitt in Drehers Leben beleuchten. Seine Eltern waren französische Staatsbürger, als sie 1905 in Mülhausen heirateten. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor, der 1907 geborene Sohn Gaston und die 1909 geborene Tochter Suzette. 1912 erhielt die Familie eine Niederlassungsbewilligung in Basel, wo ein Onkel Gastons und Suzettes lebte. Basel sollte die Stadt werden, in der der Junge sich heimisch fühlte.

Die Monografie zeichnet die Geschichte eines Mannes nach, der weder im zivilen noch im militärischen Leben Fuß fassen konnte. Dafür geben die gerichtlichen und fürsorgerischen Akten über Dreher ein umso dichteres Bild, sein »Fall« vermittelt ein sehr gutes Verständnis der damaligen Behördenpraxis. 1918 kam die Familie zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Gastons Onkel wurde wegen Lebensmittelwucher, seine Eltern wegen Gehilfenschaft verurteilt – ein Vergehen, das aufgrund antisemitischer Vorurteile vor allem jüdischen Menschen vorgeworfen wurde. Die Verurteilung verhinderte die beantragte Einbürgerung.

Gaston Dreher und seine Schwester Suzette erlebten eine Kindheit voller Schwierigkeiten. Das Werk folgt – aufgrund der besseren Quellenlage – der Lebensgeschichte des Bruders und versucht mit vielen rhetorischen Fragen und anderen Einschüben, dem Leser eine Identifikation mit der Hauptfigur zu ermöglichen. Die Schule verließ Gaston Dreher ohne Abschluss, er litt dazu unter starkem Stottern. Der verfrühte Schulaustritt erschwerte die ohnehin schon komplexe Lebenssituation Drehers, er stahl und fand keine Arbeitsstelle. 1923 starb der Vater an den Folgen einer Syphiliserkrankung.

Bereits 1922 kam Dreher zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt strafmündig war und man ihm auch kriminelle Energie unterstellte, hielt man den 15-Jährigen für formbar und seine Akte ging an die Vormundschaftsbehörde. Die Jugend Gaston Drehers lässt sich so resümieren, dass er als jugendlicher Straftäter vor dem Gefängnis bewahrt und dafür in Erziehungsanstalten untergebracht wurde. Es gehört zu den Vorzügen des Buchs, verschiedene Stationen eines Lebens vor dem Hintergrund ihrer pädagogischen und medizinisch-psychiatrischen Ausrichtung zu kontextualisieren. Dreher wurde im Sinne des Fürsorgewesens und der sich etablierenden Reformpädagogik wohlwollend behandelt: Er und seine persönliche Entwicklung standen im Zentrum der Bemühungen sowohl der Vormundschaftsbehörde als auch anderer Institutionen. Probleme bereiteten aber das Bestreiten des Lebensunterhalts und die Tatsache, dass Dreher als Straftäter geradezu chronisch rückfällig wurde.

Im Sommer 1927 musste er sich vor dem Untersuchungsrichter verantworten. Das Gericht verurteilte den inzwischen volljährig gewordenen Mann zu zwei Monaten Gefängnis. Nach Absitzen der Haftstrafe leistete Gaston Dreher Militärdienst in Frankreich, wo er wegen seines »anormalen Geisteszustandes« (S. 99) entlassen und in eine Klinik gebracht wurde. Es war der Auftakt zu einer Phase von 1928 bis 1934, die von Aufenthalten in der Psychiatrie Rouffach geprägt war. Mit der Volljährigkeit und dem Wechsel in die Obhut französischer Institutionen änderte sich die Sicht auf den jungen Mann. Er war nicht mehr der Jugendliche, dem man eine Perspektive geben wollte, er war nun ein Patient. Die wenigen Quellen, die von Dreher selbst stammen, zeugen von seiner Selbstwahrnehmung als Opfer dieser Verhältnisse.

Zwischen den Klinikaufenthalten in Frankreich versuchte Dreher immer wieder, in Basel Fuß zu fassen, was ihm aber nicht gelang. 1931 wurde er wegen verschiedener Betrügereien verurteilt, diesmal verhängten die Schweizer Behörden aus sittenpolizeilichen Gründen einen Landesverweis für zehn Jahre. Die lange Reihe von Diebstählen, Verweisbrüchen und Inhaftierungen in der Schweiz und Frankreich wurde nur von Drehers Hochzeit mit Perla Gelkopf 1936 unterbrochen, einem Lichtblick in der Lebensgeschichte. Die Ehe dauerte allerdings nur einen Tag, dann wurde Dreher von der Polizei abgeholt und musste eine Gefängnisstrafe absitzen. Seine Frau ließ die Ehe umgehend annullieren.

1940 floh Dreher in den unbesetzten Teil Frankreichs. Im Frühjahr 1942 lehnten die Schweizer Behörden ein Einreisegesuch für einen Besuch der kranken Mutter ab. Bei Dreher handelte es sich um einen »unerwünschten Ausländer« (S. 163) und ihm wurde eine Einreisesperre auf unbeschränkte Zeitdauer auferlegt. Gleichzeitig wurde er Opfer der zunehmenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Im Herbst 1943 flüchtete Dreher, um sich vor der Deportation zu retten, bei Genf in die Schweiz und gelangte unentdeckt nach Basel, wo er um Zuflucht bat.

Die Geschichte des schwererziehbaren Jugendlichen und Straftäters und der Schweizer sowie der französischen Erziehungs-, Gesundheits-, und Strafanstalten verschränkt sich nun mit derjenigen der systematischen Judenverfolgung und -vernichtung in Europa und der Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg.

Auch als Flüchtling ist der »Fall« Gaston Dreher gut dokumentiert, er wird in der hier besprochenen Monografie Schritt für Schritt nachgezeichnet. Der Entscheid zur Abschiebung wurde von verschiedenen Personen geprüft und begründet. Dreher galt als unerwünschter Ausländer, er war zwischen 1927 und 1937 insgesamt 13 Mal in einem Schweizer Gefängnis inhaftiert gewesen und unterstand dazu noch einer Einreisesperre. Die Ausführungen in der Begründung des Entscheids zeigen aber ein »gewisses Unbehagen« (S. 171). Normalerweise schob die Schweiz Flüchtlinge, die bis ins Landesinnere gekommen waren, nicht mehr ab. Hier sprach aber alles gegen Dreher und er wurde am 2. Dezember 1943 in der Nähe von Genf nach Frankreich ausgewiesen. In Frankreich fiel Dreher in die Hände der deutschen Besatzungsmacht und wurde ins Lager Drancy und von dort nach Auschwitz deportiert, wo er am 20. Dezember 1943 ankam. Er wurde für die Zwangsarbeit im Lager Monowitz selektioniert. Mehrmals taucht sein Name im Krankenregister auf, bevor Gaston Dreher am 21. April 1944 in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Der Autor und die Autorin verstehen es, der von Schicksalsschlägen durchzogenen Lebensgeschichte Drehers mithilfe didaktischer und stilistischer Mittel immer wieder Spannung und Verbundenheit zu verleihen, ohne dabei die chronologische Stringenz zu vernachlässigen. Mit der Reduktion der Perspektive auf die persönliche Geschichte eines männlichen Straftäters bleiben allerdings andere Aspekte ausgeblendet. So folgt das Werk der internalisierten Opferperspektive des Protagonisten und berührt andere Lebenswege aus seinem Umfeld und Praktiken der Resilienz nur selten. Dort wo im Text jedoch die Leben der Mutter und Schwester Drehers aufscheinen, bieten sie eine wertvolle Ergänzung und Kontextualisierung.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Catrina Langenegger, Rezension von/compte rendu de: Antonia Schmidlin, Hermann Wichers, Versorgt, ausgewiesen, in den Tod geschickt. Das Leben des jüdischen Elsässers Gaston Dreher (1907–1944), Zürich (Chronos) 2022, 217 S., 47 Abb., ISBN 978-3-0340-1679-7, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101594