Humanitäre Bewegungen und Organisationen sowie ihre Protagonistinnen und Protagonisten stehen ganz oben auf der politischen und wissenschaftlichen Agenda des inzwischen nicht mehr ganz so jungen 21. Jahrhunderts. Angesichts der anhaltenden Fluchtbewegungen aus dem globalen Süden in den globalen Norden erhalten auch die Geschichte und Erforschung früherer Migrationsschübe neue Virulenz. Einer bereits breit untersuchten Phase, dem Exil deutschsprachiger NS-Gegner und bedingt auch Rotspanienkämpfer nach Frankreich, widmet sich die vorliegende Monografie von Meredith L. Scott. Sie ist im weiteren Kontext der jüdischen, transnationalen und v. a. europäischen Geschichte im Zeitalter der Extreme zu verorten. Das engere Untersuchungsthema bilden dabei Leben und Handeln eines in Fachkreisen sicher bekannten, in der breiten Öffentlichkeit jedoch vergessenen humanitären Aktivisten: des Elsässers Salomon Grumbach (1884–1952). 70 Jahre nach seinem Tod hat die Autorin die erste wissenschaftliche biografische Annäherung an diese Ausnahmeerscheinung vorgelegt, die außergewöhnlich vielfältige Erfahrungen in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts aufweist. Grumbachs komplexe Biografie und seine multiplen Identitäten – Elsässer, Jude, Sozialist, bis 1918 deutscher, dann französischer Staatsbürger, überzeugter Europäer und Internationalist sowie unerschütterlicher Anwalt der Menschenrechte – machten ihn für viele Zeitgenossen zum verhassten Feindbild und erklären teils sicher auch, warum es bislang keine biografische Studie über ihn gab.
Meredith L. Scott gebührt das Verdienst, als erste Historikerin den Nachlass Salomon Grumbachs im Archiv der Alliance israélite universelle sowie Dokumente in den Archives nationales in Paris und die reiche Publizistik aus der Feder des Protagonisten synthetisch ausgewertet zu haben. Den Titel ihres Buches »The Lifeline« kann man in zweifacher Weise verstehen: einmal als Rettungsleine, was Grumbachs ausgeprägte Tätigkeit in der Flüchtlingshilfe der 1930er-Jahre abbildet; zum anderen aber auch als Lebenslinie Grumbachs selbst, die Scott in ihrem Buch nachzeichnet. Gleiches gilt für den Untertitel »Quest for Safety«, der zum einen auf die persönliche Sicherheit von Tausenden nach Frankreich geflohenen Menschen anspielt, zum anderen aber auch das lebenslange Streben Grumbachs nach internationaler Zusammenarbeit, europäischer Integration und einer friedlichen deutsch-französischen Koexistenz. Mit einem Fokus auf die französische Geschichte in ihren inter- und transnationalen Bezügen möchte die Autorin die individuellen Handlungsspielräume des vielfachen Außenseiters Salomon Grumbach analysieren, die dieser sich durch sein omnipräsentes Wirken in der Öffentlichkeit der demokratischen Dritten Französischen Republik schuf.
Hierzu gliedert die Autorin Grumbachs Leben in fünf Kapitel. Zunächst erfährt die Leserschaft etwas über die ersten 34 Lebensjahre Grumbachs als deutscher Staatsbürger zwischen 1884 und 1918. Darunter fallen seine kleinbürgerlichen familiären Wurzeln im Elsass, sein Selbstverständnis als säkularer Jude sowie als Intellektueller ohne Studium, seine publizistischen und politischen Anfänge, sein Eintritt in die SPD und seine beginnende journalistische Karriere, die ihn ab 1907 als Korrespondent u. a. des sozialdemokratischen »Vorwärts« nach Paris führte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs verweigerte er den deutschen Kriegsdienst gegen Frankreich, konnte als Deutscher aber auch nicht in Paris bleiben und ging ins Exil nach Bern, wo er sich publizistisch betätigte und von einem »optimistischen Idealisten zu einem pragmatischen Aktivisten« (S. 34) wandelte.
Das zweite Kapitel handelt dann vom Wechsel der Staatsbürgerschaft und dem Eintritt in die französische sozialistische Partei SFIO ab 1918 sowie seinem Bemühen um Frieden und Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland bis ins Jahr 1932. Obwohl seine politischen Ambitionen in dieser Zeit von vielen Misserfolgen und nur einmal, 1928, mit der Wahl als Abgeordneter für Mulhouse-Ville in das französische Parlament von Erfolg gekrönt waren, knüpfte er in diesen knapp 15 Jahren ein beeindruckendes Netzwerk mit französischen und internationalen Sozialisten und engagierte sich in vielfältiger Weise in humanitären Organisationen wie dem Völkerbund, der Liga für Menschenrechte oder dem Matteotti-Komitee des Internationalen Gewerkschaftsbundes. In dieser Zeit erwarb er sich einen solch ausgezeichneten Ruf als Experte für Außenpolitik und deutsch-französischer Vermittler, dass internationale Konferenzen in seiner Abwesenheit bedeutungslos erschienen. Als er 1928 in die Assemblée nationale einzog und dort Vizepräsident des Auswärtigen Ausschusses wurde, war er bereits derart omnipräsent in der Öffentlichkeit – u. a. als Berater von Außenminister Aristide Briand –, dass er immer häufiger zur Zielscheibe antisemitischer und nationalistischer Attacken wurde.
Obwohl er sein Mandat 1932 wieder verlor, nahm sein politischer Einfluss nicht ab. Scotts drittes Kapitel zeichnet eindrücklich die zahllosen Aktivitäten Grumbachs, seine Sichtbarkeit und Effizienz in Parteien und Verbänden, als Berater und Journalist sowie sein Wirken in internationalen Foren und Konferenzen in den folgenden vier Jahren nach. Vor allem aber wurde er, der seit Jahren vor dem erstarkenden Nationalsozialismus als Bedrohung des Friedens in Europa gewarnt hatte, bald zur zentralen Anlaufstelle für jüdische und sozialistische deutschsprachige Flüchtlinge in Frankreich. Dank seines weitreichenden Netzwerks und seiner intimen institutionellen Kenntnisse gelangen ihm Erfolge wie die Etablierung eines Flüchtlingskommissars des Völkerbunds, in erster Linie aber tausendfache Hilfe in individuellen Fällen. Hierbei half ihm übrigens auch seine Frau Wally, die er 1908 kennengelernt und geheiratet hatte und die selbst zu einer wichtigen Referenz als humanitäre Aktivistin wurde.
1936 glückte ihm trotz einiger Widerstände die erneute Wahl ins französische Parlament, dieses Mal als Abgeordneter des südfranzösischen Castres. Er nahm umgehend seine früheren Positionen wieder ein und nutzte sein Netzwerk und sein inzwischen unschätzbares Wissen, um im Wirrwarr der französischen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik v. a. Deutschen, Österreichern und spanischen Republikanern zu helfen. Für Tausende wurde er zum Rettungsanker, zum Garanten persönlicher Sicherheit und teils auch des Überlebens, wie die überreichen von Scott ausgewerteten Materialien bezeugen. Seine anhaltenden Warnungen vor dem Nationalsozialismus und anderen faschistischen Regimen stießen in Frankreich und selbst in Teilen seiner SFIO auf Ablehnung. Als er sich 1938 gegen das Münchner Abkommen und für einen Pakt mit der Sowjetunion aussprach, wurde er von seinen zahlreichen Feinden als Kriegstreiber beschimpft. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, die französische Internierungspolitik von Flüchtlingen ab Anfang 1939 vehement zu geißeln.
Wie Meredith L. Scott im fünften Kapitel schildert, wurde Grumbach kurz nach dem deutschen Angriff auf Frankreich ab Sommer 1940 selbst verfolgt und verhaftet. Nach einem gescheiterten Ausreiseversuch im Namen der französischen Regierung nach Nordafrika stellten ihn die Vichy-Behörden unter Hausarrest an verschiedenen südfranzösischen Orten. Nur weil er in den folgenden Jahren Kontakte zur Résistance und lokalen Vichy-Gegnern knüpfen konnte, gelang es ihm und seiner Frau, SS-Razzien ab 1944 zu entkommen. Seine letzten Lebensjahre bis 1952, davon handelt der Ausblick im Schlussteil, zeugen von einer großen Kontinuität in Grumbachs Wirken für Menschenrechte, Demokratie und Frieden in Europa. Bis 1949 in gewählten Ämtern und bis zum Schluss in Führungspositionen in der SFIO, knüpfte er bald neue Kontakte zur SPD, sprach sich gegen eine Zerschlagung Deutschlands und zu viel amerikanischen Einfluss in Europa, aber für den Marshall-Plan und die europäische Integration aus, lehnte jedoch die deutsche Wiederbewaffnung vehement ab und engagierte sich weiterhin für Menschenrechte, den jungen Staat Israel und für eine jüdische Erinnerung in Frankreich.
Die Arbeit von Meredith L. Scott ist gut geschrieben und basiert auf der einschlägigen Forschungsliteratur, wobei französische Titel weniger zahlreich sind und deutsche Titel fast überhaupt nicht vorkommen. Für eine umfassende Biografie Salomon Grumbachs fehlen jedoch mehr Ausgewogenheit und Quellen besonders im ersten Kapitel und im Schluss. In den Archiven des Office universitaire de recherche socialiste in Paris, dem Archiv der sozialen Demokratie in Bonn oder im Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam ließen sich gewiss viele weitere Informationen finden. Ärgerlich hingegen ist, dass die Autorin viele Personen von Grumbachs Netzwerk in der Arbeit benannt hat (freilich findet sich nichts zu z. B. Hans Vogel, Erich Ollenhauer oder Kurt Schumacher), diese jedoch so gut wie nicht im Index aufgeführt sind. Wünschenswert gewesen wären auch mehr Belege an zahlreichen Stellen (z. B. S. 17 bei der Selbstbetrachtung als Intellektueller) sowie mehr Sorgfalt bei deutschsprachigen Bezeichnungen (S. 18 »Sturm und Drang«) und inhaltlichen Aussagen (die Saar-Region stand z. B. in der Zwischenkriegszeit nicht »unter französischer und britischer Kontrolle«, wie S. 76 behauptet, sondern unter Völkerbundsverwaltung mit einer Regierungskommission, in der Franzosen und Briten wichtige Rollen einnahmen, aber eben nicht allein).
Trotz dieser Kritikpunkte ist das Verdienst der Autorin unbestritten, erstmals fundiert an Grumbachs Engagement für NS-Opfer in Frankreich erinnert und diese Geschichte in breitere Kontexte des transnationalen Humanitarismus gestellt zu haben. Bleibt die Hoffnung, dass das Leben dieses philanthropischen Aktivisten, der nationale, politische und religiöse Grenzen in seinem Kampf für Menschenrechte, Demokratie und Frieden in Europa überwand, nun verstärktes Interesse seitens der Geschichtswissenschaft erfährt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jens Späth, Rezension von/compte rendu de: Meredith L. Scott, The Lifeline. Salomon Grumbach and the Quest for Safety, Leiden (Brill Academic Publishers) 2022, 186 p. (Brill’s Series in Jewish Studies, 72), ISBN 978-90-04-51439-3, EUR 126,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101595