Dies ist ein anspruchsvolles und ehrgeiziges Buch, mit dem George Steinmetz, Professor für Soziologie an der University of Michigan, auf mehreren Gebieten einen kraftvollen Akzent setzt. Erstens bietet »The Colonial Origins of Modern Social Thought« eine methodologische Grundlegung und dann sogleich ein über Hunderte von Seiten ausgeführtes Beispiel für das, was Steinmetz »[the] historical socioanalysis of social science« (S. 349) nennt. Hier ist der Anspruch ein prononciert exemplarischer: Steinmetz will eine simple Ideengeschichte überwinden, die über Paraphrasen von Texten und das Aufspüren von Genealogien und Einflüssen nicht hinauskommt. Zweitens wird auf breitester Materialgrundlage ein empirischer Befund ausgebreitet: Von den französischen Soziologen – nahezu ausschließlich Männern –, die von der Mitte der 1930er- bis zur Mitte der 1960er-Jahre publizierten, also während der Epoche von Spätkolonialismus und Dekolonisation, waren etwa die Hälfte auf unterschiedliche Weise mit der französischen Kolonialpräsenz verbunden, also Vertreter einer gut identifizierbaren, wenngleich nicht randscharf abgegrenzten »colonial sociology», etwas umständlich definiert als »all forms of sociological writing and research focused on overseas colonies and colonial phenomena and empires and imperial phenomena« (S. 12).

Drittens deutet Steinmetz diesen Tatbestand in einer sorgfältig begründeten Weise, die dem polarisierenden Zeitgeist des Jahres 2023 entgegentritt: Jede Verstrickung mit dem Übel des Kolonialismus ist in hohem Maße problematisch, doch keineswegs alle Kolonialsoziologen waren Komplizen und Erfüllungsgehilfen des französischen Kolonialreichs. Zum einen waren gerade die besten unter ihnen unverblümte Kritiker des Imperialismus, zum anderen wäre es keine moralisch und intellektuell überlegene Alternative gewesen, sich auf eine hexagonale Binnensoziologie zurückzuziehen und die Augen vor den Realitäten globaler Zusammenhänge und kolonialer Machtstrukturen zu verschließen. Steinmetz hält unbeirrt an dieser Ambivalenz fest: Während die Kolonialsoziologie des mittleren 20. Jahrhunderts für die heutigen Sozialwissenschaften ein belastendes Erbe bedeutet, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen (dafür schafft dieses Buch die erforderlichen Grundlagen), hat sie zugleich den Blick hinaus in die Welt gelenkt und damit an Spuren von Kosmopolitismus bei den Gründervätern der Soziologie angeknüpft, vor allem dem ethnologisch interessierten Émile Durkheim und, wenngleich in Frankreich viel weniger einflussreich, dem kulturvergleichenden Max Weber. Deshalb gehören die Kolonialsoziologen zu einer Geschichte der Entprovinzialisierung der französischen Sozialwissenschaften. Steinmetz unterstreicht mehrfach den Gegensatz zur Entwicklung der Soziologie in den USA, deren Weltbezug sich auf Immigrationsstudien beschränkte und die unter dem Einfluss des ordnungsfixierten Talcott Parsons wenig über gesellschaftliche Dynamik zu sagen hatte.

Das Buch arrangiert fünfzehn Kapitel in fünf Teile. Teil I (Kapitel 1 bis 2) beklagt und erklärt die Ausblendung der Kolonialsoziologie aus der bisherigen Soziologiegeschichtsschreibung, begründet eine Perspektive, die von »the intellectual generativity of empires« (S. 30) ausgeht und skizziert die Methodologie und Epistemologie einer historischen Wissens- und Wissenschaftssoziologie auf der Grundlage der Theorien Pierre Bourdieus. Teil II (Kapitel 3 bis 5) bringt einen der beiden zentralen Analysebegriffe zum Einsatz: »Kontext« (der andere Begriff ist »Feld«). Der wichtigste der verschiedenen politischen Kontexte, in denen sich ab den 1930er-Jahren die Kolonialsoziologie formierte, war ein »colonial developmentalism«, wie er gleichzeitig auch in den Imperien der Niederländer und der Briten auftrat. Nirgendwo aber wurde das damit verbundene Bemühen um eine »Verwissenschaftlichung« des Kolonialismus so weit getrieben wie in Frankreich. Zahlreiche Bildungseinrichtungen (etwa die Universitäten von Algier und Hanoi), Forschungsinstitute, Regierungsagenturen und Museen schufen Projektchancen und Arbeitsplätze für werdende Kolonialwissenschaftler.

Bei der Beschreibung einer ausgedehnten Forschungslandschaft in den Kolonien ebenso wie in der Metropole geht das Buch tief ins institutionelle Detail, bevor es in Teil III die intellektuellen Kontexte untersucht. Damit ist vor allem die Abgrenzung des »Feldes« von Nachbarfeldern – der aus einer anderen Theorierichtung stammende Begriff des »Diskurses« wird sorgsam vermieden – gemeint. Die Geografie, die bei einer ähnlichen Untersuchung für Deutschland eine große Rolle zu spielen hätte, war in Frankreich weniger wichtig. Umso ausführlicher werden die Beziehungen zur Ethnologie und – zwei besonders gelungene Abschnitte – zur Psychologie/Psychiatrie und zur Demografie behandelt. In Teil III treten nach den Abstraktionen des Anfangs persönliche Akteure zunehmend sichtbar in Erscheinung. Es handelt sich um 88 Individuen, die zwischen den späten 1930er- und den 1960er-Jahren »active in colonial research« waren (Appendix 1, S. 363–365).

Teil IV (Kapitel 9 und 10) bildet das wissenschaftssoziologische Gravitationszentrum des Bandes. Hier entsteht nach allen Regeln der Kunst ein Gruppenprofil des Stammpersonals, und es wird die ausgesprochen Bourdieusche Frage nach der wissenschaftlichen »Autonomie« der neuen Kolonialsoziologie gestellt und beantwortet. Wichtige Seiten gelten den wenigen – etwa einem Dutzend – »indigenous sociologists«, unter denen es nur der jüdische Tunesier Albert Memmi zu größerer Bekanntheit brachte, nicht zuletzt als Romanautor. In Teil V schließlich verleiht Steinmetz seiner Botschaft Anschaulichkeit, indem er sie in vier ausführlichen Porträts verdichtet. Wer vermutet hätte, hier würden herausgehobene akademische Kollaborateure des Kolonialismus entlarvt und denunziert, sieht sich eines Besseren belehrt. Das Gegenteil ist der Fall. Raymond Aron (1905–1983), Jacques Berque (1910–1995), Georges Balandier (1920–2016) und Pierre Bourdieu (1930–2002) sind Persönlichkeiten, die Steinmetz als Wissenschaftler, Autoren und furchtlose Intellektuelle bewundert und deren Schriften er zu genauem Studium empfiehlt.

Bis auf Balandier gelangten sie alle auf den Gipfel des französischen Wissenschaftssystems, ans Collège de France, doch nur Pierre Bourdieu hat globale und bis heute unangefochtene Prominenz erlangt. Was Steinmetz über Bourdieu zu sagen hat, wird vermutlich seinem Buch die meiste Resonanz verschaffen, obwohl es nicht überraschend und wenig kontrovers ist: In seinen Jahren in Algerien (1957–1960) wandelte sich Bourdieu vom Philosophen zum Soziologen; kaum ein Element seines späteren ausgedehnten Werkes entbehrt kolonialer Wurzeln (»colonial tributaries«, S. 337); ohne die frühen Kolonialerfahrungen wäre Bourdieu nicht der geworden, als den ihn die Welt kennt. Noch wichtiger ist die »rettende Kritik«, die Bourdieu seinen übrigen drei Protagonisten angedeihen lässt. Gemeinsam haben sie, dass sich die Frage der Identifizierung mit dem »Feld« für sie nicht stellte. Sie waren nur partiell Soziologen und setzten sich unbekümmert über Disziplingrenzen hinweg: Aron als Theoretiker und Kritiker der Imperien und des Imperialismus, Berque als Arabist, Islamkenner und Welthistoriker, Balandier als Afrikaforscher und Theoretiker sozialer Dynamik. Sie alle, auch Bourdieu, haben es nicht nötig, vom Standpunkt angeblicher heutiger Überlegenheit arrogant »dekolonisiert« zu werden. Umgekehrt ist es richtig: Sie hatten den Kolonialismus selbst erlebt und von innen heraus durchschaut. Ihr intellektuelles Niveau – dafür plädiert dieses Buch – sollte als fortgeltender Maßstab begriffen werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jürgen Osterhammel, Rezension von/compte rendu de: George Steinmetz, The Colonial Origins of Modern Social Thought. French Sociology and the Overseas Empire, Princeton (Princeton University Press) 2023, 576 p., 47 b/w fig. (Princeton Modern Knowledge), ISBN 978-0-691-23742-8, USD 45,00., in: Francia-Recensio 2023/4, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2023.4.101596