Je ferner »das Mittelalter« zeitlich rückt, umso zahlreicher und vielfältiger erscheinen die Bezüge auf diese Epoche aus der Gegenwart heraus. Manche davon wirken unbedenklich, wenn etwa im burgundischen Guédelon eine »mittelalterliche« Burg entsteht, deren Erbauer sich ausschließlich der Techniken, Werkzeuge und Materialien bedienen wollen, die im Mittelalter bereits verfügbar waren. Tatsächlich können dadurch sogar Kenntnisse und Fertigkeiten entwickelt werden, die im Zusammenhang denkmalpflegerischer Arbeiten von Nutzen sein mögen – im Zug der Renovierungsarbeiten an Notre-Dame de Paris wurden aktive Teilnehmer des Projekts anscheinend angefragt1.

Am anderen Ende des Spektrums der Mittelalter-Rezeption hingegen sind eindeutig gefährliche Phänomene zu finden: Nationalistische Politiken werden genauso mit missbräuchlichen Geschichtsbezügen gerechtfertigt wie extremistische Haltungen und terroristische Anschläge. So überrascht nicht, dass die Herausgeberinnen und Herausgeber des zu besprechenden Bandes in ihrer knappen Einleitung (S. 7–11) nicht nur die breite Rezeption mittelalterlicher Motive in Fantasy-Literatur und Film betonen, sondern auch auf die Attentate von Utøya im Jahr 2011 und Christchurch im Jahr 2019 verweisen. In beiden Fällen bezogen sich die Täter intensiv auf Daten, Namen und Phänomene, die im Mittelalter zu verorten sind.

Mediävistinnen und Mediävisten stellt das vor schwierige Fragen: Zählt die Untersuchung solcher Bezüge zu ihren genuinen Aufgaben? Und was bedeutet dies für ihre Arbeit? Da der sogenannte »Mediävalismus« bereits über vierzig Jahre alt ist (S. 11) mangelt es nicht an einschlägigen Studien und Beiträgen. Von einem Konsens kann aber keine Rede sein: Tommaso di Carpegna Falconieri, dessen instruktive Studie zum »Medioevo militante« auch in französischer und englischer Übersetzung vorliegt2, sieht die Zukunft der mittelalterbezogenen Forschung schlechthin im Mediävalismus. Aber unterscheidet sich dessen Fokus sowie das nötige Handwerkszeug nicht stark von jenen der Mediävistik?

Die insgesamt fünfzehn Beiträge des vorliegenden Bandes machen deutlich, dass es sich lohnt, einschlägige Diskussionen fortzuführen und zu vertiefen: Gegliedert in vier große Abschnitte, zeigen sie zunächst, dass die Rezeption des Mittelalters keine Neuheit unserer Gegenwart ist, sondern ihrerseits eine lange Geschichte besitzt (I: Alain Corbellari, William Blanc, Marion Bertholet, Joanna Pavlevski-Malingre), bevor sie unterschiedliche Kontexte und Medien der »(Wieder-)Herstellung« des Mittelalters fokussieren (II: Yohann Chanoir, Clément und Louis de Vasselot de Régné, Florian Besson, Pauline Ducret, Martin Bostal). Fragen der Didaktik und der Vermittlung werden in Teil III adressiert (Isabelle Olivier, Romain Vincent, Tristan Martine), Teil IV widmet sich dem Verhältnis von Mediävalismen und Mediävistik (Anne Besson, Tommaso di Carpegna Falconieri, Vincent Ferré). Das resultierende Panorama ist ebenso bunt wie instruktiv – und es stellt her, dass die Autorinnen und Autoren keinesfalls in unkritischer Begeisterung einem aktuellen Trend der Rezeptionsstudien folgen möchten: Insbesondere die Ausführungen von I. Olivier zum Mittelalter in der Jugendliteratur (S. 117–125) sowie von R. Vincent zum Einsatz von Videospielen mit historisch grundierten Inhalten im Schulunterricht (S. 127–137) arbeiten Problemstellen heraus, ohne dabei resignativ zu werden.

Zugleich bestätigt die Lektüre, wie wünschenswert die weitere Internationalisierung der Forschungsdebatte bleibt, hätten doch etwa die Studien, die aus dem Arbeitskreis »Geschichtswissenschaft und digitale Spiele« hervorgingen3, produktive konzeptuelle Anregungen bieten können. Deutschsprachige Publikationen bleiben aber weitgehend unerwähnt, die abschließende Auswahlbibliografie (S. 211–214) führt mit Valentin Groebners »Das Mittelalter hört nicht auf« lediglich einen einschlägigen Titel an. Dabei wäre es interessant gewesen, zu sehen, wie das von Felix Zimmermann betonte Konzept der Atmosphäre als Analysekategorie4 zur Erschließung des Materials beigetragen hätte. Eine starke Affinität ist zumindest nicht von der Hand zu weisen, wenn etwa W. Blanc in seinem Beitrag über »mediävalistische Objekte« (S. 25–36) unterstreicht, dass das heute imaginierte (und inszenierte) Mittelalter Geschmack und Geruch habe (S. 34). Für den Beitrag von F. Besson und P. Ducret über das Mittelalter in der gegenwärtigen Spielkultur (S. 89‑99) gilt ähnliches.

Insgesamt sollte man sich von der Lektüre dieses facettenreichen Bandes aber weder eine durchgehende Systematik erwarten noch homogene Befunde: Vielmehr bieten die einzelnen, meist recht knapp gehaltenen Beiträge kurze Vignetten, die jeweils einen Bereich schlaglichtartig erhellen. Das mindert keineswegs den Wert des Gesamtbandes, auch wenn die Überzeugungskraft variiert: So erscheinen dem Rezensenten die Überlegungen von Y. Chanoir zum Mediävalismus im Film (S. 67–76), inklusive der Frage, ob ein Genre des »Mittelalterfilms« überhaupt sinnvoll zu fassen sei (S. 69 f.), insgesamt produktiver als die darauf folgende Sammlung von Mittelaltermotiven im japanischen Animationsfilm aus der Feder von C. und L. de Vasselot de Régné (S. 77–88). Zwar mögen einschlägige Befunde schon aus sich heraus eine gewisse Faszination ausüben, aber man hätte doch gerne ein wenig mehr über die möglichen Hintergründe dieser Rezeption erfahren. Die Autoren verweisen vor allem auf den Einfluss der Fantasy seit den 1960er- und 1970er-Jahren (S. 81), aber wie ist es um längerfristige Phänomene bestellt? Schon im frühen 20. Jahrhundert wurde etwa die Figur der Jeanne d’Arc im koreanischen »Aeguk puin chŏn« als Modell einer nationalen Freiheitskämpferin rezipiert5.

Die Offenheit der titelgebenden Frage nach dem Verhältnis von Mediävistik und Mediävalismen wird in zwei diskussionsorientierten »Ateliers« besonders klar, weil hier die unterschiedlichen Perspektiven ins Gespräch kommen (S. 151‑158: Isabelle Catteddu, Fanny Cohen Moreau, Fanny Madeline und Fabien Paquet zur Frage, wie man das Mittelalter heute präsent machen kann; S. 173–180: Florian Besson, Paul B. Sturtevant, Clovis Maillet und Cécile Voyer zu den Praktiken der Mediävistinnen und Mediävisten gegenüber Nicht-Mediävistinnen und Nicht-Mediävisten). Auch das Fazit der Herausgeberinnen und Herausgeber (S. 203–209) hebt diese Offenheit hervor, ebenso wie die Bedeutung des interdisziplinären Gesprächs, das V. Ferré in seinem Beitrag anmahnt (S. 193‑201). Die versammelten Fallstudien zeigen wiederholt, dass sich die Welt der Mediävalismen im Rahmen ihrer Globalisierung in vielerlei Hinsicht von den wissenschaftlich (re-)konstruierbaren historischen Grundlagen gelöst hat (etwa A. Besson in ihrem Beitrag zu Fantasy und Mediävistik, S. 163–171). Zugleich bleibt aber das historische Mittelalter wichtiger Ausgangspunkt der Inspiration, sodass bereits die reine Existenz der Rezeption eine Einladung an die Mediävistik darstellt, die Untersuchung und den Dialog fortzusetzen. Dies gilt schon deswegen, weil objektorientierte Praktiken wie das Reenactment durchaus weiterführende Erkenntnisse hervorbringen können, die auch die Fachwissenschaften befruchten, wenngleich M. Bostal dies zurückhaltend einschätzt (S. 101–111, hier 110f.). Da aber Phänomene, die zunächst ostentativ der Unterhaltung dienen, auch problematische politische Färbungen aufweisen können6, wird die fortgesetzte Auseinandersetzung nachgerade zur Pflicht. Insofern stellt dieser Band, der mit einem farbigen Abbildungsteil versehen ist, eine Einladung zum fortgesetzten Gespräch dar, das fraglos auch vom Einbezug deutsch-französischer Perspektiven weiter profitieren könnte. Dabei wäre interessant zu untersuchen, ob die Rezeption des Mittelalters in der Moderne tatsächlich stärker ausgeprägt ist als die Rezeption anderer Epochen – und falls ja, wie sich das erklären lässt? Die Forschungen von Otto G. Oexle böten hier reichhaltiges Material für den weiteren Austausch über die Sprachgrenze hinweg.

1 Kim Willsher, »They said it was impossible«: how medieval carpenters are rebuilding Notre Dame, in: The Guardian, 20.08.2022, https://www.theguardian.com/world/2022/aug/20/notre-dame-cathedral-fire-rebuild-medieval-carpenters-guledon (05.02.2024).
2 Tommaso di Carpegna Falconieri, Medioevo militante: la politica di oggi alle prese con barbari e crociati, Turin 2011; frz. Übersetzung als Médiéval et militant: penser le contemporain à travers le Moyen Âge, Paris 2015, engl. Übersetzung als The Militant Middle Ages: Contemporary Politics Between New Barbarians and Modern Crusaders, Leiden 2020.
3 Zur Präsentation des Arbeitskreises siehe den Blog https://gespielt.hypotheses.org/ (05.02.2024).
4 Felix Zimmermann, Virtuelle Wirklichkeiten. Atmosphärisches Vergangenheitserleben im Digitalen Spiel, Marburg 2023.
5 Ich verdanke diesen Hinweis Verena Scholz, deren BA-Arbeit »Jeanne d’Arc in Korea« ich 2017 an der Ruhr-Universität Bochum betreuen durfte.
6 Siehe etwa die instruktive Darstellung bei Florian Besson, Pauline Ducret, Guillaume Lancereau, Mathilde Larrère, Le Puy du Faux. Enquête sur un parc qui déforme l’Histoire, Paris 2022.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Klaus Oschema, Rezension von/compte rendu de: Martin Aurell, Florian Besson, Justine Breton, Lucie Malbos (dir.), Les médiévistes face aux médiévalismes, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2023, 222 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-8794-6, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103040