Seit den 1970er-Jahren tragen die Forschungen und Publikationen von Nicole Bériou maßgeblich dazu bei, den Wert mittelalterlicher Predigten als erstrangige Quellen der Kirchen- und Ordens-, Sozial- und Wirtschafts-, Kultur- und Alltagsgeschichte zu erkennen. Insbesondere in ihrer monumentalen thèse d’État »L’avènement des maîtres de la Parole« (1998) hatte sie die Bedeutung der Pariser Universität für den grundlegenden Wandel in Form und Performanz der Volkspredigt in Europa herausgearbeitet. Bereits bevor die Mitglieder der großen Mendikantenorden die Predigt in den Mittelpunkt ihres Wirkens in den europäischen Städten stellten, setzte dieser Wandel in Paris im 12. Jahrhundert im Umfeld von Theologen wie Petrus Comestor (gest. 1178), Petrus Cantor (gest. 1197) oder der Schule von Saint-Victor ein.
Der vorliegende Band vereint 13 Aufsätze von Nicole Bériou aus den Jahren 1978 bis 2015, die sich thematisch um die Predigt gruppieren und durch eine neue Einleitung, bibliografische Ergänzungen sowie sorgfältige Register erschlossen werden. Bereits der Titel der Aufsatzsammlung verweist auf ein wesentliches Anliegen der Verfasserin: In den tausenden Manuskripten, aus denen sich das spätmittelalterliche Predigtkorpus zusammensetzt, befindet sich die renommierte Mediävistin noch immer auf der Suche nach dem lebendigen gesprochenen Wort. Sie interessiert sich für die Reflexe der Volkssprache in den weitgehend lateinischen Überlieferungen genauso wie für rhetorische und kognitive Leistungen der Prediger, welche biblische und theologische Gedanken in die Alltagswelt ihres höchst diversen Publikums übersetzten, sowie für die Biografien von Predigern, die es bei dieser anspruchsvollen Übersetzung zu anerkannter Meisterschaft gebracht haben. Die knappe Einleitung (S. 11–18) resümiert aus der Sicht der Verfasserin die wesentlichen Etappen zum »sermon moderne« sowie die grundlegenden moraltheologischen, didaktischen, linguistischen Facetten dieses Wandels hin zur neuen Volkspredigt, die in der Praxis volkssprachlich und adressatenorientiert, in der Theorie von neuen theologischen Konzepten unterfüttert war. Nicht nur der wichtige Beitrag über die Predigt der Viktoriner (S. 113–125) macht deutlich, dass es am Ende um nicht weniger ging als um eine ekklesiologische Standortbestimmung: »remémorer le message du salut«, »affirmer les réalités de foi«, »nourrir la dévotion« (S. 124). Die Kirche war für das Seelenheil ihrer Gemeinden verantwortlich, die Prediger sollten dabei die tatsächlichen Lebensbedingungen ernstnehmen und die Frömmigkeit in den Herzen ihrer Zuhörer erwecken.
Nicht zufällig beginnt die Sammlung mit einem Aufsatz über die Mitschriften der Pariser Predigten im späten 13. Jahrhundert (S. 21‑52). Diese Auswahl spiegelt zwei Schwerpunkte in den Arbeiten Bérious wider: Zum einen widmet die langjährige Direktorin des Institut de recherche et d’histoire des textes einen Großteil ihres wissenschaftlichen Werks der Grundlagenforschung an Manuskripten und Überlieferungsfragen. Sie ergänzt nicht nur diesen Beitrag durch Editionen der weitgehend unbekannten und unedierten Predigten. Zum anderen steht Paris im Zentrum der Neuorientierung der mittelalterlichen Volkspredigt. Im 13. Jahrhundert lässt sich der Großteil der überlieferten Predigten keinem einzelnen Verfasser zuordnen; noch seltener sind autografische Manuskripte eines Predigers. In der Masse handelt es sich bei den spätmittelalterlichen Sermones um Mitschriften von Studierenden, beauftragten Schreibern oder Klerikern aus den Reihen des Publikums. Von solchen Mitschriften kursierten, besonders wenn es sich um renommierte Prediger oder beliebte Predigtthemen handelte, schnell weitere Abschriften und Varianten. Verbunden mit dem zweiten und dritten Beitrag, die sich erstens mit dem Verhältnis von mündlichem Vortrag in der Volkssprache und lateinischer Schriftfassung und zweitens mit den Prologen von Predigtsammlungen befassen, werden zu Beginn des Aufsatzbandes wesentliche Entstehungsbedingungen, sprachliche und kompositorische Merkmale der Predigtüberlieferung des 13. Jahrhunderts beschrieben.
Eine zweite Gruppe von Beiträgen thematisiert den Stellenwert und Gebrauch von Autoritäten in der homiletischen Praxis (»Les autorités et leurs usages«). Dabei reflektiert der erste Aufsatz dieses Teils einen wichtigen weiteren Arbeitsschwerpunkt von Nicole Bériou: Sie vergleicht hier, in welcher Form Texte des Evangeliums in Liturgie und Predigt verwendet werden. Aus der spezifischen Auswahl und den für die Predigt notwendigen Übersetzungen in die Volkssprache leitet sie Wahrheitsstrategien von Theologen, Predigern und religiösen Gruppierungen ab, die sich im Mittelalter, inspiriert von Volkspredigten, selbst auf die Suche nach evangelischer Wahrheit machten (S. 99–111). Der fundamentalen Bedeutung der heiligen Schrift für Form und Inhalt der neuen Predigt sind Beiträge zur Predigt bei den Viktorinern (S. 113–125), zu den Predigten Federico Viscontis, eines prominenten und späten Vertreters der viktorinischen Schule (S. 163–177) und zum doppelten biblischen Thema der neuen Volkspredigt (S. 179–192) gewidmet. Der gemeinsam mit Martin Morard verfasste Aufsatz über die Rolle der Kirchenväter bei der religiösen Unterweisung einfacher Laien im 12. und 13. Jahrhundert geht über die Perspektive der Autoritäten hinaus und bezieht mit dem Predigtpublikum eine sozialgeschichtliche Dimension ein, die für die Gesamtkonzeption der »modernen« Predigt wesentlich ist. Unter welchen Bedingungen das seit der Spätantike hochkomplexe Gedankengebäude der Patristik für die Unterweisung illiterater Zuhörerinnen und Zuhörer eingesetzt wurde, ist die entscheidende Frage für den anhaltenden Erfolg dieser neuen Form pastoraler Tätigkeit. In einem schönen Bild bezeichnet Nicole Bériou diese nur scheinbar einfachen Sprachmuster als hochgradig artifizielle und ästhetisch ansprechende Gebilde, vergleichbar einer mittelalterlichen Kathedrale (S. 189).
Der größte Teil des vorliegenden Bandes gruppiert sich um »le milieu parisien« der spätmittelalterlichen Volkspredigt. Die fünf Aufsätze dieses Teils sind zum einen auf bedeutende Institutionen und Prediger und zum anderen auf das Pariser Publikum gerichtet. Chronologisch am weitesten zurück geht der Beitrag zu Saint-Germain-des-Prés, wo sich einige Predigten aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts erhalten haben. Handelt es sich bei den Texten des Mönchs Abbo um wertvolle, weitgehend unbekannte historische Zeugnisse zur Bewältigung der normannischen Bedrohung der Abtei und der ganzen Stadt Paris, so macht die Kontrastierung mit den Predigten aus demselben Kloster aus dem späten 12. und 13. Jahrhundert die Merkmale der »prédication nouvelle« (S. 202) nur umso deutlicher. Mit den Predigten Stephen Langtons, des späteren Erzbischofs von Canterbury (S. 213‑240), wird ein Hauptvertreter der Predigtreform im Zeitalter vor den Mendikanten ausgewählt. Als Schüler des Petrus Cantor gehörte der Engländer einer Gruppe von Theologen an, die nach ihrer Berufung in hohe Kirchenämter um 1200 die Ideen ihres Universitätslehrers in die Diözesen und Gemeinden Europas transferierten. Zwei umfangreiche Beiträge sind anschließend der Zeit und dem Wirken der großen Bettelorden in Paris gewidmet: Mit Guillaume de Mailly (S. 241–306) wird ein wichtiger, wenngleich nahezu unbekannter dominikanischer Prediger der 1270er-Jahre behandelt. Umfangreiche Auszüge aus seinen Predigten und Hinweise zur Überlieferung kennzeichnen diesen Beitrag, der gemeinsam mit Louis Jacques Bataillon verfasst wurde. Es ist vor allem Bérious eigenen Forschungen zu verdanken, dass über Ranulphe de la Houblonnière, Absolvent der Pariser Theologie, Kanoniker und später Bischof von Paris (1280–1288), als Prediger und Seelsorger bereits viel bekannt ist (vgl. La prédication de Ranulphe de la Houblonnière, 2 Bde., Paris 1987). Der hier abgedruckte Aufsatz zu den Überzeugungsstrategien dieses Kirchenmanns zeigt noch einmal in voller Klarheit, dass in der sprachlichen und rhetorischen Konstruktion der neuen Volkspredigten der wesentliche Beitrag zu einer umfassenden Reform der Seelsorge in den Gemeinden lag (S. 307–328). Dazu zählte nicht zuletzt der breite Einsatz von Exempla, kurzen moralischen Beispielerzählungen, die die Lehren der religiösen Unterweisung veranschaulichten. Der zugleich längste und älteste Beitrag dieses Bandes schließt die Publikation ab: Es handelt sich um die Untersuchung einer Predigtsammlung zum Gebrauch bei Pariser Beginen in den 1270er-Jahren, die maßgeblich in zwei Manuskripten der Bibliothèque nationale bewahrt ist. Systematisch wird hier das aus 57 Einzelpredigten bestehende Predigtkorpus in formaler und inhaltlicher Hinsicht erschlossen. Nicht weniger als 25 verschiedene Prediger konnten hinter dieser Sammlung identifiziert werden (S. 329–444). Umfangreiche Textpassagen werden im Anhang ediert.
Abgesehen davon, dass die hier präsentierte Auswahl notgedrungen nur einen Teil der Aspekte berücksichtigen kann, die in den Forschungen von Bériou die schier unerschöpfliche Aussagekraft von Predigten für nahezu alle Bereiche des mittelalterlichen Denkens und Lebens in ein helles Licht rücken, ist es ein unbestreitbar großer Gewinn für die Forschung, die Genese der wissenschaftlichen Erschließung dieses Genres an bedeutenden Marksteinen der letzten fünf Jahrzehnte einfach und anschaulich nachvollziehen zu können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jörg Oberste, Rezension von/compte rendu de: Nicole Bériou, En quête d’une parole vive. Traces écrites de la prédication (Xe–XIIIe siècle), Aubervilliers, Paris, Orléans (Institut de recherche et d’histoire des textes) 2022, 456 p. (Bibliothèque d’histoire des textes), ISBN 978-2-493209-02-3, EUR 31,50., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103042