Der hier besprochene Sammelband basiert auf dem gleichnamigen Kolloquium, das im Oktober 2018 auf Initiative des Centre d’études supérieures sur la fin du Moyen Âge (CESFiMA) und des Institut de recherche et d’histoire des textes (IRHT) stattfand (S. 7). Er ist – neben Einleitung und Epilog – in zwei Teile untergliedert, die je sechs Artikel umfassen. Diese zwei Teile widmen sich: »Salomon, seiner Weisheit und seinem geheimen Wissen« sowie »Salomon, dem Tempel und beider Repräsentation/Darstellung«. Das Buch ist gänzlich in französischer Sprache verfasst.

Obgleich Salomon eine Figur ist, auf die im europäischen und mediterranen Mittelalter häufig Bezug genommen wird, fehlt es in der Tat an einem Werk, das die Rezeptionsgeschichte dieser alttestamentlichen Königsgestalt grundlegend untersucht. Dieser Sammelband beginnt, diese Lücke zu füllen, wobei sich die Beitragenden im Wesentlichen auf literatur- und kunstgeschichtliche Aspekte begrenzen, theologische Gesichtspunkte aber keineswegs ausklammern. Der Anspruch des Bandes ist es, die mit der Figur Salomon einhergehenden Hauptaspekte eines Kulturtransfers nachzuvollziehen und dabei die neuesten Forschungen auf den Gebieten der Spiritualitäts-, Magie-, Kunst- und Literaturgeschichte zu berücksichtigen (S. 10f.) – ein Anspruch, dem man auch prinzipiell gerecht wird, wenngleich ein Sammelband dieses Umfangs vielmehr als Impulsgeber denn als abschließendes Werk für ein so breites Spektrum an Themenbereichen verstanden werden muss. Eine große Stärke des Bandes ist, dass er sich nicht auf das christliche Mittelalter beschränkt: Drei Beiträge widmen sich dem Salomon-Bild der arabisch-islamischen Welt; einer der Rezeption Salomons in der jüdischen Tradition, der sogar Transkriptionen und Übersetzungen zum Inhalt hat (S. 107–136).

Als bedeutende Gestalt für alle drei großen monotheistischen Religionen ist Salomon auch eine wichtige Figur in der sunnitischen Koranexegese (S. 17). Als eine Art Königsprophet spielt Salomon eine einzigartige Rolle im Koran. Als Staatsoberhaupt, das sich auch der Kriegsführung widmete, hat er durchaus Parallelen zu Mohammed (ibid.). Gewissermaßen bestätigen und erhellen die Berichte über Salomon einige Aussagen über Mohammed. Beide entsprechen sich auf einer figurativen Ebene, sind typologisch miteinander verbunden. Als solcher Typus wirkt Salomon auch als Bindeglied zwischen Abraham und Mohammed (S. 27f.). Quasigöttliche Fähigkeiten kommen Salomon in der Koranexegese auch durch die ihm zugesprochene Begabung des sprachlichen Interagierens mit Tieren, insbesondere Vögeln, zu. Auch das Beherrschen der Pferde, des Windes und der Dämonen/Geister (Dschinn), die für ihn beispielsweise Bauwerke errichteten, spielen hier hinein (S. 21, 26, 29, 229). Für manchen Leser dürfte es ein Augenöffner sein, dass dieser exegetische Stoff auch Eingang in die Welt von »Tausend und einer Nacht« gefunden hat. So beispielsweise das Gefangenhalten einiger Dschinn oder das Beherrschen der Winde, das sich letztlich zur Figur des Fliegenden Teppichs entwickelte (S. 59f., 74–76, 237).

Salomons Ambivalenz als weiser, gottgefälliger, aber zugleich auch beeinflussbarer und der Idolatrie frönender König (insbesondere S. 43–54) sorgte dafür, dass er im Mittelalter immer wieder mit literarischen Gestalten und realen Herrschern in Verbindung gebracht wurde. Die Fülle an Beispielen hierfür ist im vorliegenden Band zu groß, um sie alle zu listen. Sie ist sogar zu groß, um die Beispiele innerhalb des Bandes selbst alle vollständig zu interpretieren. Häufig werden Referenzen auf die Gestalt des Salomon erst einmal nur benannt, dokumentiert und noch gar nicht umfassend gedeutet. Dies geschieht insbesondere dann, wenn überhaupt erst gezeigt werden muss, dass Salomon Teil eines bestimmten Forschungsfeldes ist, wie es eindrücklich im Beitrag von J. Véronèse über den Zusammenhang von Salomon und Exorzismus (S. 79–105) gelingt, oder wenn Ch. Heck entgegen der bislang gültigen Lehrmeinung beweist, dass Salomons Idolatrie deutlich vor dem 16. Jahrhundert ein Thema in der Kunst war (S. 215–227). Eben solche Erkenntnisse machen den Band zu einem Impulsgeber für neue Forschungsansätze.

Gleichwohl bleiben Interpretationen des Salomon-Bildes seitens der Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes nicht aus. Nicht immer sind diese aber gut begründet. In ihrem sonst durchaus gelungenen Beitrag über Salomon in der mittelalterlichen »deutschen« Literatur (S. 31–41) fragt sich D. Buschinger, warum Albrecht im »Jüngeren Titurel« das »Gralsschloss« in Galicien erbauen lässt, und findet als Begründung, dass das 13. Jahrhundert die Zeit der »Reconquista« gewesen sei und »Titurel« in »Spanien« die Heiden bekehren und den christlichen Glauben festigen konnte (S. 34). Jedoch sollte in den 2020er-Jahren nicht mehr auf das zu Recht widerlegte und noch dazu den Zeitgenossen fremde Konzept der »Reconquista« zurückgegriffen werden. Könnte man doch vielmehr auf die zeitgenössische Gestalt Alfonsʼ X. verweisen – den König von Kastilien-León mit dem Beinamen »el Sabio/der Weise«, der obendrein deutsche Wurzeln hatte (er war der Urenkel Friedrich Barbarossas). Alfons X. ist allerdings, im Gegensatz zu seinen theoretisch ebenfalls relevanten Namensvettern Alfons II. und Alfons VI., später im Sammelband noch Thema (S. 43, 45, 209).

Da Salomon als Bauherr des Tempels in Jerusalem gilt, wird mit ihm die Symbolik dieses Bauwerks relevant, die ebenfalls eine umfangreiche Rezeptionsgeschichte vorzuweisen hat. Während K. Mitalaité einen Überblick über den Einfluss von Beda Venerabilisʼ »De templo« auf die Autoren der Karolingerzeit bietet (S. 139‑155), der die Paradoxien dieses Werkes im Umfeld jener Ikonoklasten verdeutlicht (S. 155), gelingt G. Hidrio ein eher universaler Überblick über die biblische Darstellung des Tempels (S. 157f.), die Baugeschichte des Tempelberges (S. 159) und die Entstehung der Idee eines geistigen Tempels, der den physischen Wiederaufbau in Jerusalem unnötig macht (S. 160). Aus letzterem Punkt heraus wird ein Überblick über die Deutung des Tempels und seiner Bestandteile bis ins Spätmittelalter entwickelt (S. 161‑186).

Mit dem Beitrag von Ph. Faure wird die figurative, respektive typologische Bedeutung Salomons als Vorläufer und auch Vorfahre Christi in der Ikonografie thematisiert (S. 187–200). Man muss betonen, dass dieses Thema methodisch gesehen über die Ikonografie hinausgeht und dieser Beitrag somit von großer Bedeutung für den gesamten Band ist.

Schließlich fehlt es in diesem Buch auch nicht an allerhand Skurrilem, wie »Shamir« – einem Objekt oder Stoff, dem sich A. Lafrate widmet (S. 201–213) – oder einer Bauanleitung für eine Art Flugzeug, das womöglich als Fluchtoption dienen sollte, wenn die Anrufung von Dämonen unkontrollierbar würde (S. 135).

Ein Epilog über die Figur Salomon im Zusammenhang mit den Freimaurern vom 17. bis zum 19. Jahrhundert rundet den Band ab (S. 247–262).

Am Ende des Buches schließen sich ein Ortsindex, ein analytischer Index, ein Index der thematisierten Handschriften, ein Werksindex, der die biblischen Bücher miteinschließt, das Abbildungsverzeichnis, das Inhaltsverzeichnis und schließlich ein Tafelteil an. Durch die hilfreichen Indices sowie die Tatsache, dass einige Beiträge einführenden Charakter haben, eignet sich dieser Band durchaus auch für Studierende, sofern sie der französischen Sprache mächtig sind.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Patrick S. Marschner, Rezension von/compte rendu de: Jean-Patrice Boudet, Jean-Charles Coulon, Philippe Faure, Julien Véronèse (dir.), Le roi Salomon au Moyen Âge. Savoirs et représentations, Turnhout (Brepols) 2022, 302 p., 52 ill. (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge, 22), ISBN 978-2-503-59319-7, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103046