Die Dissertation von Hanno Jansen, betreut von Wolfgang Wagner und Martin Kintzinger, entstand am Forschungsstandpunkt Münster im Zusammenhang mit dem von 2015 bis 2019 von der DFG geförderten SFB 1150 »Kultur des Entscheidens«.
Soweit es den geschichtswissenschaftlichen Zweig dieses Forschungsfeldes betreffe, liege das Hauptaugenmerk darin, »Entscheiden als ein genuin historisches Phänomen zu fassen und eben dieses einer systematischen Erschließung durch die historische Forschung zu öffnen« (S. 24). Zu diesem Zweck untersucht Jansen eine historische Entscheidungskultur im akademischen Raum, nämlich Rektorenwahlen an mittelalterlichen Universitäten.
Prägend für Jansens Ansatz und Vorgehensweise ist Rainer Christoph Schwinges’ bahnbrechende Studie über Rektorenwahlen (1992). Schwinges erforschte die Wahlverfassung und Wahlpraxis von Rektorenwahlen an 15 Universitäten im Alten Reich und systematisierte sie in die drei Kategorien Repräsentantenwahl, Ausschusswahl und Mehrfachausschusswahl. Er ordnete die Untersuchung der Verfassungs-, Sozial- und Universitätsgeschichte zu.
In seinem eigenen Werk beschreibt und deutet Jansen die Wahlverfassung und Wahlpraxis von Rektorenwahlen an insgesamt 39 europäischen Universitäten: 16 in Frankreich, neun in Italien, sieben auf der Iberischen Halbinsel, zwei in England, zwei in Schottland, zwei in Skandinavien und eine in Polen. Über die drei von Schwinges festgestellten Wahlkategorien hinausgehend findet er außerdem die Wahl durch ein Plenum und unter Einbeziehung des Losentscheides.
Die Vielzahl von neuen Studien zur europäischen Universitätsgeschichte, die in den vorausgehenden 30 Jahren entstanden sind, erleichtert heutzutage den Zugang zu den Geschichten der einzelnen Universitäten. Gleichwohl: Der Anspruch, dem sich Jansen stellt, in dieser Tiefe in die Geschichte einer solchen großen Zahl heterogener Universitäten zu dringen, ist weitreichend und umfassend. Er behandelt wohl etwas weniger als die Hälfte aller mittelalterlichen Universitäten und wegen dieser großen Zahl lässt sich das Werk auch wie ein Handbuch zur Universitätsgeschichte benutzen.
Für jede der 39 Universitäten, darunter Bologna und Paris, legt Jansen einen Überblick über die Verfassung der Rektorwahl und ihre Praxis vor, wobei er beides in die spezifische Geschichte der jeweiligen Universität einordnet. Das ist für sich genommen bereits sehr wertvoll, erlaubt es doch, sich eingehend über dieses wichtige strukturelle Phänomen der mittelalterlichen Universitätsorganisation zu informieren. Denn in der Regel gibt es konzise Darstellungen dieses Themas in den Geschichten der jeweiligen Universitäten nicht.
Bei einer so breit angelegten Studie kann sich der Autor zwangsläufig nicht in alle potenziell infrage kommenden Quellen vertiefen. Man könnte – hier aus der eigenen Kenntnis der Pariser Verhältnisse heraus – gelegentlich Kritik an Fehlinterpretationen üben. Ihre Wertung erscheint jedoch nicht angemessen angesichts der Breite der Studie und der Vielzahl der Erkenntnisse, die das Werk insgesamt liefert. Für die besondere Frage, warum sich an der Universität von Paris gerade die Ausschusswahl etablierte, könnten Anschlussforschungen vielleicht weitere Quellengattungen hinzuziehen wie die Werke von Glossatoren und Dekretisten.
Von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung sind die Filiationen der Wahltypen. Der besondere Blick auf die Rektorenwahl an französischen Universitäten zeigt den prägenden Einfluss und die Ausstrahlung der Universität von Bologna. Dort entstanden sowohl die Repräsentantenwahl (Juristen) als auch die Plenarwahl (Artisten, Mediziner). Repräsentantenwahlen übernahmen unter den von Jansen untersuchten französischen Universitäten diejenigen von Angers, Dole, Perpignan und Valence. Plenarwahlen übernahmen die Universitäten von Aix-en-Provence, Avignon, Bordeaux, Cahors, Orléans, Poitiers und Toulouse. In Montpellier gab es beides nach dem Vorbild Bolognas: die Repräsentantenwahl bei den Juristen und die Plenarwahl bei den Medizinern. Den Anschlussforschungen bleibt es vorbehalten zu ermitteln, warum nun gerade die einen Universitäten die Repräsentantenwahl übernahmen und die anderen die Plenarwahl. Solche Filiationen aber überhaupt erst sichtbar zu machen, ist eines der großen Verdienste des weiten Bogens der Dissertation. Auf diese Weise werden Prozesse in der Entwicklung der Entscheidungsfindung im europäischen Kulturraum nachvollziehbar. Zugleich gibt die Erkenntnis von Filiationsmustern in der Rektorenwahl neue Impulse für die Erforschung des Modellcharakters der beiden »Prototypen«, Bologna und Paris.
Filiationslinien im Zusammenhang mit der Rektorenwahl sind nämlich keineswegs immer eindeutig zu erkennen. Dass die Universität von Caen und diejenige von Nantes in der Ausschusswahl des Rektors dem Muster der Universität von Paris folgte, ist nachvollziehbar wegen der geografischen Nähe der Städte zu Paris. Warum aber wurde dieses Verfahren außerdem an den Universitäten von Oxford, Glasgow und St. Andrews sowie Kopenhagen und im Reich (Ingolstadt, Köln, Löwen, Wien) praktiziert und an anderen nicht? Welche Gründe dafür auch im Einzelnen vorliegen, auch dies vermögen jetzt Anschlussforschungen zu analysieren.
Die Deutung eines strukturellen Phänomens der Universitätsgeschichte im europäischen Vergleich, wie hier das der Rektorwahl, könnte als methodisches Beispiel dienen für Forschungen über andere Strukturphänomene der mittelalterlichen Universität. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich um ein sehr aufwendiges und anspruchsvolles Verfahren handelt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Martina Hacke, Rezension von/compte rendu de: Hanno Jansen, Rektorwahlen an mittelalterlichen Universitäten Europas. Eine Studie zur Entscheidungskultur im akademischen Raum, Göttingen (V&R) 2023, 589 S. (Kulturen des Entscheidens, 9), ISBN 978-3-525-35699-9, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103064