Mit der Zeit um 1100 widmet sich die vorliegende Dissertationsschrift aus dem Jahr 2020, hervorgegangen aus dem Tübinger Graduiertenkolleg »Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)«, einer seit jeher im Interesse der Forschung stehenden Periode, die auch in jüngster Zeit nicht an Aktualität eingebüßt hat1. Wird in der deutschsprachigen Forschung diese Zeit weiterhin vorwiegend unter dem Begriff des »Investiturstreits« subsumiert, verweist die französische Bezeichnung »réforme grégorienne« auf die prägende Rolle Papst Gregors VII., wobei auch in diesem Zusammenhang jüngst neue Überlegungen vorgelegt worden sind2. Mit Deutschland und Frankreich sind auch die wichtigsten Entstehungsorte der Quellen benannt, die im hier zu besprechenden Werk in den Fokus gerückt werden. Das vorrangige Erkenntnisinteresse gilt den Entstehungsumständen und Konstruktionsbedingungen ausgewählter Kontroversschriften um 1100, die vom Verfasser als theoretische Texte verstanden und klassifiziert werden. Die Arbeit sieht dabei die untersuchten Schriften als »Produkte einer jeweils spezifischen kommunikativen Situation« (S. 27) und geht unter Nutzung der Analysekategorie »Wissen« den Bedingungen ihrer Anlage sowie dem Prozess der Generierung neuen Wissens unter der Um- und Neuformung vorhandener, insbesondere religiös-biblischer Informationen nach. Konkret wird nach der Darstellung von Widerstand gefragt, eines der »Kernprobleme der Zeit um 1100« (S. 30), wie dieser unter Zuhilfenahme von Informationen konstruiert und im Gesamtzusammenhang der ausgewählten Texte verortet wurde.

Nach einer Einleitung, die sich umfassend dem Forschungsstand zu den Kontroversschriften und der Erforschung von Widerstand um 1100 zuwendet (S. 14–19) sowie die methodischen und theoretischen Grundlagen der Arbeit darlegt (S. 21–33) – eine knappe Begründung für die Auswahl der zur Analyse herangezogenen Kontroversschriften wäre an dieser Stelle noch wünschenswert gewesen – verfolgt der Verfasser sein Anliegen in vier Kapiteln, die sich jeweils einer Schrift oder Schriftsammlung annehmen. Beginnend mit dem »Liber de unitate ecclesiae conservanda« (S. 34–99), folgen in chronologischer Reihung der »Tractatus de regia potestate et sacerdotali dignitate« Hugos von Fleury (S. 100–150), die sogenannten »Normannischen Traktate« (S. 151–220) und die von Honorius Augustodunensis verfasste »Summa Gloria«. In einem abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit umfangreich und leicht zugänglich zusammengefasst und eingeordnet (S. 275–296). Die Studie schließt mit einem tabellarischen Anhang zu den »Normannischen Traktaten«, einem Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personen und Orte bündelnden Register.

Die Analyse des »Liber de unitate« legt den Fokus insbesondere auf das erste Buch dieser Schrift, das sich vor allem mit einem zum Abfassungszeitpunkt Anfang der 1090er-Jahre weitverbreiteten und noch immer äußerst relevanten Brief Papst Gregors VII. an Bischof Hermann von Metz aus dem Jahr 1081 auseinandersetzt, in dem jener Argumente für die Rechtmäßigkeit der erneuten Bannung König Heinrichs IV. im Jahr 1080 und der damit verbundenen Lösung aller Anhänger des Herrschers von ihren Treueiden bietet. Dem Verfasser gelingt es in der Folge sehr eindrücklich, die Vorgehensweise des anonymen Autors des »Liber« deutlich zu machen, dessen Anspruch der Widerlegung und Richtigstellung der Inhalte des päpstlichen Briefes gilt. Dabei bedient sich der Anonymus zahlreicher nichtbiblischer Vorlagen, insbesondere exegetischen Schriftguts – der Verfasser kann hier zahlreiche neue Zitate identifizieren oder fälschliche Identifikationen verbessern –, während Bibelzitate nur in vergleichsweise geringem Ausmaß nachweisbar sind. Überzeugend kann veranschaulicht werden, wie der Anonymus die Argumente Gregors als Missverständnisse offenlegt, sodass er diese nicht neu auslegt, sondern verbessert, neu konturiert und damit neues Wissen schafft. Indem die angeordnete Lösung von geschworenen Eiden durch den Papst als falsche Schlussfolgerung erwiesen wird, kann der Anonymus den Widerstand gegen den illegitim handelnden Papst als legitime Handlung begründen, während dem Bischof von Rom ansonsten prinzipiell Folge zu leisten sei.

Die Konstruktion von Widerstand weist in den untersuchten Werken insgesamt deutliche Unterschiede auf. Hugo von Fleury, ausgehend von einer prinzipiellen Überordnung des Königs und der notwendigen Einheit von regnum und sacerdotium, lehnt aktiven Widerstand grundsätzlich ab und sieht diesen alleine in der Hand Gottes, während die Menschen einzig in Form etwa des Gebets passiven Widerstand zu leisten in der Lage sind. Im Gegensatz dazu formuliert Hugo von Fleury eine Höherwertigkeit des Priestertums und fordert, in Unterscheidung von Amt und Person, zwar dazu auf, das Amt zu verehren und ihm Gehorsam zu leisten, formuliert aber bei Überschreitung der Amtskompetenzen eine Pflicht zu – passivem – Widerstand.

Im Unterschied zu den drei jeweils einem Autor zuzuordnenden Schriften vermag der Verfasser die so genannten »Normannischen Traktate« mit guten Gründen mehreren Autoren zuzuweisen; eine Beziehung einzelner Traktate zueinander erscheint dabei plausibel. Entsprechend unterschiedlich erfolgt auch die Konstruktion von Widerstand, generell wird aber die Vorrangstellung des Papstes in vielen der Traktate hinterfragt oder zurückgewiesen, Widerstand und Ungehorsam als weitgehend unzulässig herausgestellt. Eine Einheitlichkeit der Sammlung wird somit nicht aufgrund eines einzelnen Verfassers, inhaltlicher oder arbeitstechnischer Kriterien formuliert, vielmehr infolge seiner »lebendigen Diskussion mehrerer Personen, die zum Teil wohl (und wenn nur in den Details) unterschiedliche Ansichten hatten« (S. 213).

Insgesamt bietet das vorliegende Werk einen äußerst konzisen Einblick in die Abfassungsumstände der ausgewählten Kontroversschriften, den von ihnen genutzten Informationen und der daraus hervorgegangenen Neukonzipierung zur Generierung neuen Wissens. Insbesondere im Fall des »Liber de unitate« mit seinem Entstehungsort Hersfeld sowie den »Normannischen Traktaten«, die mit guten Gründen nach Rouen ins Umfeld des dortigen Erzbischofs Wilhelm I. Bonne-Âme verortet werden, wird auch auf den Einfluss lokaler Begebenheiten zur Abfassung näher eingegangen; er hätte allerdings noch etwas intensiver Berücksichtigung finden können. Gleiches gilt für geografische Unterschiede einer Niederschrift in Deutschland und Frankreich oder die Einwirkungen der geänderten Zeitumstände bei einer Abfassung um 1090 (»Liber de unitate«), um 1100 (Hugo von Fleury, »Normannische Traktate«) oder um 1110 (Honorius Augustodunensis). Auch wenn der Verfasser die Darstellungsform in den Fokus rückt und dem konkreten Schreibanlass nur eine sekundäre Bedeutung beimisst (S. 33), hängen diese beiden Ebenen doch untrennbar zusammen. Dies vermag die Qualität der Arbeit aber nicht zu beeinträchtigen, die für die weitere Erforschung der Kontroversschriften der Zeit eine neue Grundlage bietet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Matthias Weber, Rezension von/compte rendu de: Maximilian Nix, Widerständiges Wissen. Widerstandskonzeption und Wissensproduktion in den theoretischen Kontroversschriften um 1100, Husum (Matthiesen) 2023, 339 S. (Historische Studien, 517), ISBN 978-3-7868-1517-4, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103069