Der Band ist aus dem Wiener Forschungscluster »Visions of Community« (2011–2019) hervorgegangen und widmet sich der Geschichtsschreibung der Völker, Reiche, Dynastien und auch Städte des »non-Roman-Europe« im Norden und vor allem Osten unseres Kontinents. Dabei ging es um die Frage, welchen Beitrag die Historiografen zur Identitätsbildung insbesondere von Großgruppen (»Nationen«) leisten konnten. Unterschieden wurde nach Eigen- und Fremdzeugnissen. In dem einen oder anderen Sinne widmen sich Ian Wood Adam von Bremens Berichten über Skandinavien, Rosalind Bonté der Bekehrungsgeschichte der Orkney-Inseln anhand der »Orkneyinga saga«, Stefan Donecker und Peter Fraundorfer dem Letten Heinrich und seiner Geschichte Livlands, Jan Hasil der »Chronica« des Cosmas von Prag, Jan Klápštĕ Helmold von Bosaus »Chronica Slavorum«, Zbigniew Dalewski dem polnischen Chronisten Gallus Anonymus, Maximilian Diesenberger dem Blick des Franken Regino von Prüm auf die Anfänge der Ungarn, Francesco Borri der »Istoria Veneticorum« des Diakons Johannes, sowie Donald Ostrowski und Oleksiy Tolochko der altrussischen Chronik. Einige Beiträge sind methodisch als syn- oder diachronisch-bipolare Vergleiche angelegt. So untersucht Sverre Bagge mit Saxo Grammaticus und Snorri Sturluson maßgebliche Autoren für die dänische beziehungsweise norwegische und isländische Geschichte, Pavlína Rychterová stellt für Böhmen die »Legenda Christiani« und die »Chronica« des Cosmas gegenüber, Dániel Bagi konfrontiert die »Gesta Hungarorum« des Magisters P. mit dem gleichartig angelegten Werk des Simon von Kéza, Neven Budak widmet sich den dalmatinischen Städten (resp. Inseln) Split und Brač anhand ihrer Chronisten, des Erzdiakons Thomas und des Priesters Domnius de Cranchis, und Peter Štih vergleicht die lokale Historiografie von Grado und wiederum von Split. Mehrere Werke nehmen vergleichend Jacek Banaszkiewicz, László Veszprémy und Aleksandar Uzelac in den Blick; bei dem ersten geht es um die Verwendung der Geschichte von Salomon und der Königin von Saba bei Gallus Anonymus, im »Chronicon Salernitanum« und in der »Pèlerinage de Charlemagne«, beim zweiten um mehrere Werke der ungarischen Chronistik, beim dritten um die serbische traditionsbildende Überlieferung des 13. Jahrhunderts.

Die reichen Ergebnisse der klugen Studien lassen sich hier nicht im Einzelnen würdigen. Allen gemeinsam ist jedoch die Erkenntnis, dass sich die historiografischen Werke nicht auf eine Intention zurückführen lassen, aus der spätere Generationen eine bestimmte Botschaft für ihre Identität ableiten müssten. Am besten hat dies Pavlína Rychterová auf den Punkt gebracht: »Cosmas (von Prag) schrieb seine ›Geschichte‹ nicht mit der bewussten Absicht, neue Identitäten für das Volk der Böhmen zu formen […]. Er schrieb wirklich keine Geschichte einer gens (eines Volkes), sondern er wählte die gens als Rahmen für seine Erzählung […]. Die Antwort auf die Frage, was er denn tatsächlich schrieb, wenn es keine Geschichte eines Volkes war, muss die Komplexität der Chronik in Rechnung stellen. Wir müssen die Möglichkeit einer Vielzahl von Antworten einräumen, die alle gleichzeitig wahr und falsch sind – es gibt mehr als eine Erklärung wie es mehr als ein Motiv gab, das Cosmas zur Niederschrift seines uns bekannten Textes veranlasste. Ebenso sandte die Chronik mehr als eine Botschaft an die Nachlebenden.« Wir müssen die »Vieldeutigkeit unserer Quellen verstehen, ihre subtilen Sinnverschiebungen, und die Koexistenz verschiedener, manchmal einander widersprechender Konzepte, Stellungnahmen und Sichtweisen. Die Antwort auf die Frage, was genau die Chronik des Cosmas ist, mag dann sein, dass sie eine Geschichte der gens Bohemorum ist und dies gleichzeitig nicht der Fall ist: Sie ist ebenso die Geschichte des Landes, das Böhmen genannt wird, eine Geschichte der Adelsfamilien, eine Geschichte des Bischofssitzes von Prag, aber auch eine Geschichte des Reiches, und zwar dies sowohl im realgeschichtlichen als auch im idealisierten Sinne, wie sie Cosmas verstand. Welche dieser Geschichten in einem bestimmten Moment als die dominierende erscheint, als die wahre Interpretation des Rätsels, das der Text aufgibt, das liegt im Auge des Betrachters oder Lesers, und zwar sowohl des mittelalterlichen als auch des modernen« (S. 169f.).

Im Sinne dieser Urteile und Thesen hat Walter Pohl in seiner Zusammenfassung der Beiträge festgestellt, dass »die Geschichten der neuen Reiche (im nördlichen und östlichen Europa) versucht haben, Aggregate der Identifikation auf verschiedenen Ebenen zu schaffen, aber sie haben keine einfachen, verbindlichen Standards dafür geliefert, was es heißt, eine Tschechin, eine Ungarin oder eine Russin zu sein. Sie bieten Modelle für viele Lebenslagen an. Sie ermächtigen ihre Leserinnen, indem sie das Vergangene verstehbar für die Gegenwart und Zukunft machen« (S. 481; Pohl kann im englischen Original auf das Gendern verzichten).

Wichtig bleiben bei alledem die Unterschiede zwischen dem »alten« und dem »neuen Europa«, also den Europas mit oder ohne antiker Vorgeschichte (Pohl, S. 471–477). Die Geschichten der neuen Mächte im Norden und Osten zu schreiben, brauchte eine lange Zeitspanne. Auch wenn die Königreiche hier oft um das Jahr 1000 entstanden sind und dies mit der Christianisierung verbunden war, sind die ersten historischen Aufzeichnungen und Lobreden darüber erst rund drei Jahrhunderte später niedergeschrieben worden. Direkte Anschlüsse an antike römische oder griechische Autoren waren nicht möglich, sodass Verbindungen mit biblischen oder ethnografischen Völkern hergestellt werden mussten. Eine Möglichkeit bestand auch darin, Anleihen bei älteren narrativen Modellen zu machen. So stützte sich die altrussische Chronik (sog. »Nestor-Chronik«) stark auf die Genealogien des Alten Testaments und auf die Liste der Völker, die nur vage mit dem Horizont der cyrillo-methodianischen Mission verbunden werden konnten, der auf sie folgte. In ähnlicher Weise benutzte Heinrich von Livland biblische Muster, um der Geschichte des Baltikums einen historischen Sinn zu geben; Magister P. und Simon von Kéza zapften die reiche Überlieferung von Skythen und Hunnen für die Geschichte der Ungarn an usw. Schließlich sind es die dynastischen Kontinuitäten und die Zentralität der Herrschaftsbildungen gewesen, die viele historische Darstellungen des östlichen Europas geprägt und so von den Geschichten der poströmischen Jahrhunderte und Reiche unterschieden haben.

Was also machte die Identität einer mittelalterlichen Großgruppe aus? Darauf lässt sich nach den Ergebnissen dieses Buches nur antworten, dass sie das Eine ebenso war wie das Gegenteil davon. An dieser Ambivalenz fanden auch die Bemühungen der Geschichtsschreiber ihre Grenzen. Definitionsversuche führen nicht zum Ziel, und selbst Idealtypen im Sinne von Max Weber würden unbefriedigend bleiben. Soll sich also die Geschichtswissenschaft überhaupt mit der Identität von Völkern und Reichen und dem Beitrag der Historiografie dazu befassen? Walter Pohl und Veronika Wieser haben in ihrer Einleitung darauf geantwortet, dies nicht zu tun würde bedeuten, das Feld der neuen Welle von Identitätspolitiken und nationalistischen Narrativen zu überlassen. Damit haben sie recht. Ein Sammelband wie dieser macht deutlich, dass die Berufung auf eine kanonisierte Identität einer Bevölkerung oder eines Staates in die Irre führt und nichts ist als Ideologie. Das heißt wiederum nicht, dass große und kleine Gruppen auf das Ringen um ihre Identitäten verzichten könnten; sie müssen aber bereit sein anzuerkennen, dass jeder Einzelne an ihnen nur partiell Anteil haben kann.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Borgolte, Rezension von/compte rendu de: Walter Pohl, Veronika Wieser, Francesco Borri (ed.), Historiography and Identity. Band 5: The Emergence of New Peoples and Polities in Europe, 1000–1300, Turnhout (Brepols) 2023, 501 p. (Cultural encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 31), ISBN 978-2-503-58849-0, EUR 125,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103075