Die Société des historiens médiévistes de l’Enseignement supérieur public (SHMESP), der französische Mediävistenverband, dessen Mitglieder aus der Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie stammen, hat eine schöne Tradition von jährlichen Tagungen, die pünktlich im Jahr danach gedruckt vorliegen. Im Sinne der recherche ouverte stellt der Verband diese Bände online zur Verfügung: von 1970 bis 2007 auf Persée (persee.fr), danach im Rahmen von openedition.org1. Seit der ersten Tagung im Gründungsjahr 1969 sind 52 Bände erschienen. Im Idealfall spiegeln diese Bände aktuelle Ansätze der Forschung und konnten so, zunehmend international ausgerichtet, als Einführung und Update der methodologisch sich fortentwickelnden Geschichtswissenschaft dienen.

Nicht völlig willkürlich seien hier herausgegriffen der erste Kongress in Nizza 1969 (»La démographie médiévale«) sowie die Kongresse in Limoges und Aubazine 1995 (»Voyages et voyageurs au Moyen Âge«), in Mulhouse 2006 (»Construction de l’espace au Moyen Âge: pratiques et représentations«) und in Arras 2016 (»Histoire monde, jeux d’échelles et espaces connectés«). Besonders zu nennen sind die beiden epistemologisch ausgerichteten Tagungen, die 1989 in Paris (»L’histoire médiévale en France. Bilan et perspectives«) und 2007 an den vier Universitäten der Île-de-France (Cergy-Pontoise, Évry, Marne-la-Vallée, Saint-Quentin-en-Yvelines) veranstaltet wurden (»Être historien du Moyen Âge au XXIe siècle«, mit dem bemerkenswerten Kollektivbeitrag über die »enjeux du tournant numérique«).

Zugleich etablierte sich eine neue Tradition von Kongressen in Zusammenarbeit mit den französischen Auslandsinstituten (Rom, Madrid, Istanbul, Kairo, Oxford, Jerusalem, Frankfurt am Main), und 2013 fand der Kongress in Prag statt. Für 2021 war er auf Einladung des Réseau des médiévistes belges de langue française (https://rmblf.be), die eine ähnliche Kongresstradition haben, in Brüssel geplant. Aufgrund der Pandemie fand er in Form von Videokonferenzen statt und wurde im vorliegenden Band publiziert.

Wie immer ist kein Herausgeber genannt: Der Verband besorgt die Drucklegung, wem genau sie zu danken ist, mag man der Einleitung oder den entsprechenden Funktionsstellen im Bureau der SHMESP entnehmen. Im vorliegenden Fall sind es Élisabeth Lusset und Lucie Malbos, und auf den ersten wie auch den zweiten Blick ist ihnen ein schönes Buch gelungen, insbesondere durch die gut eingebundenen farbigen Graphen, die mit der rechnergestützten Netzwerkanalyse einhergehen. Wie immer werden außerdem die Beiträge von einem ausführlichen Forschungsreferat (rapport introductif) und abschließenden Beobachtungen flankiert: Beides ist in der Regel höchst willkommen. Im vorliegenden Band haben sich Régine Le Jan und Julien Loiseau die Einführung geteilt. Zwischen dem Hof Ludwigs des Frommen in der karolingischen Pfalz Ingelheim, den Ermoldus Nigellus beschrieben hat, und der Sassanidenherrlichkeit in »Tausendundeiner Nacht« können sie anhand der Schlüsselbegriffe Netzwerk, personale Verbindungen, aber auch global history/histoire globale und imperiale Modelle die Formen der Kommunikation und des Austauschs zwischen Höfen auf aller Welt problematisieren. Verschiedene Vokabulare spielen eine Rolle, und verschiedene Definitionen werden möglich, je nachdem ob der Hof eher als Residenz oder als Institution ins Auge gefasst wird, ob man ihn als Raum anspricht, der durch den Herrscher bestimmt wird, oder als Gemengelage von personalen Verbindungen verschiedener Natur. In jedem Fall scheint er ein Ensemble von Palast, Ritualen und Zeremonien zu sein, für das der Austausch von Luxusgütern wie auch der Transfer von kulturellem Wissen konstituierend ist.

Die einzelnen Beiträge sind auf vier Sektionen verteilt: »La cour comme mise en scène du pouvoir«, »Les entourages princiers«, »Réseaux curiaux«, »Modèles et échanges curiaux«. In der ersten Sektion beleuchtet R. Gareil die Rolle eines abbasidischen Kalifen im 10. Jahrhundert für die zunehmende Bedeutung von Gelehrsamkeit in seiner Machtausübung, während C. Chevalier-Royer den für die Problemstellung der Tagung zentralen Text »De ordine palatii« aus dem Frankenreich des 9. Jahrhunderts analysiert. M.-E. Torres präsentiert das strenge Protokoll im hochmittelalterlichen Byzanz als komplexe soundscape, die den Hof immersiv umgibt; am Ende des Mittelalters erscheint der Hof der burgundischen Großherzöge in Dijon als alltägliche Bühne der höfischen Rituale (H. Mouillebouche). Das Personen- und Ämtergeflecht am burgundischen Hof Philipps des Guten und Philipps des Schönen (J.-M. Cauchies) wird in der zweiten Sektion den gelehrten Überlegungen zum Problem des Weingenusses am Hof des abbasidischen Kalifen des 8. bis 10. Jahrhunderts (A. Caire) gegenübergestellt. Wiederum in Burgund und Frankreich werden höfische Phänomene wie Graue Eminenzen (J. Dumont) oder Ratgeber des Königs (S. Berger) im späteren Mittelalter durchleuchtet. Ein Luxemburger Beitrag (E. Adde, M. Margue, T. Salemme) stellt die Verhandelbarkeit und die Legitimierung von Herrschaft sowie den Transfer auf verschiedenen Ebenen in den Mittelpunkt der Beobachtungen: Der Hof wird hier zum capital curial einer dynamischen Verwaltung des Königreichs der Luxemburger im 14. Jahrhundert.

Die dritte Sektion bringt Statistik und Netzwerkanalyse. Am Beispiel der Grafen von Vermandois und der letzten Kapetinger werden Methodologie und Grenzen der Analyse von Netzwerken mittels Graphen überzeugend demonstriert, wobei die Knoten für Personen stehen, während die Kanten die Verbindungen zwischen ihnen ablesbar machen. So kann O. Canteaut zeigen, wie das Umfeld der französischen Könige im 14. Jahrhundert durch die Protagonisten des Hochadels und ihre jeweilige Umgebung polarisiert wird; es entstehen schwer fassbare informelle Interessensgruppen, was die Grenzen der Netzwerkanalyse aufzeigt. Am Beispiel der Grafschaft Vermandois im 12. Jahrhundert können N. Ruffini-Ronzani und R. Waroquier den Aufbau der Netzwerke und ihre wesentlichen Exponenten vorstellen. Marjolaine Lemeillat unternimmt eine quantifizierende Prosopographie von 684 Gelehrten am Hof der bretonischen Herzöge und geht auf die Bedingungen ihrer Karriere, ihren Status und die zunehmende Präsenz von universitär ausgebildeten Juristen im Spätmittelalter ein. Weitere Analysen widmen sich dem Netzwerk der byzantinischen Kaiserin Theodora im 6. Jahrhundert (V. Puech) und der Vernetzung französischer Gräfinnen des Hochmittelalters in ihrem jeweiligen höfischen Umfeld (E. Santinelli-Foltz).

In der letzten Sektion geht es um Modelle und Transfer höfischen Lebens. M. Coumert untersucht normative Texte (»Admonitio generalis«, »Lex Salica«) aus der Zeit Karls des Großen und vermag zu zeigen, dass die Umsetzung der als karolingische Renaissance apostrophierten Reformen von der Verbreitung dieser Texte durch die am Hof präsenten Großen und die von ihnen bestellten Abschriften befördert wurde. Der Beitrag von E. Tixier du Mesnil über die Taifa-Reiche im post-umayyadischen Spanien des 11. Jahrhunderts kann vielleicht als ein Beispiel für das in der Einführung zitierte Konzept der univers curiaux (E. Anheim) gelesen werden: ein durch ein eigenes Netzwerk charakterisiertes Ensemble von Höfen, das eine reiche literarische und wissenschaftliche Produktion generiert. Imitatio und Transfer lassen sich am Beispiel der Kardinalshöfe im päpstlichen Avignon um 1400 beobachten (C. Masson), aber auch am Hof der Herren von Audenarde/Oudenaarde im Flandern des 12. und 13. Jahrhunderts (R. Moens) oder dem der Könige von Sizilien im 13. und 14. Jahrhundert (R. Chilà). Der letzte Beitrag untersucht die zunehmende Professionalisierung und Militarisierung am Hof der Grafen von Armagnac, der das changierende Kräfteverhältnis von Rouerge und Gascogne abbildet (E. Johans).

Synthese und Ausblick (E. Bousmar und A. Peters-Custot) sowie knappe Zusammenfassungen der Beiträge in englischer und französischer Sprache beschließen den instruktiven Band, dessen gut gewählte Umschlagabbildung das Thema treffend visualisiert: die Darstellung der Gesandtschaft des Basileus Theophilos an den Kalifen von Bagdad 829 aus einer sizilianischen Handschrift des 12. Jahrhunderts.

1 Der vorliegende Band ist zugänglich unter https://books.openedition.org/psorbonne/111091 (06.02.2024).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jens Schneider, Rezension von/compte rendu de: Modèles, réseaux et échanges curiaux au Moyen Âge. LIIe congrès de la SHMESP / XLIIIe rencontres du RMBLF (Bruxelles, 20–23 mai 2021), Paris (Publications de la Sorbonne) 2022, 396 p. (Histoire ancienne et médiévale, 184), ISBN 979-10-351-0839-7, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103095