Der vorliegende Band dient als erste programmatische Veröffentlichung und damit zugleich als Auftakt für die Publikationsreihe des Sonderforschungsbereichs 1369 »Vigilanzkulturen«. Durch die verschiedenen Fächer und unterschiedlichen Zugangsweisen, die dieser versammelt, fällt der Band insgesamt recht heterogen aus, wie auch die sehr knappe Einleitung feststellt. Dennoch seien, nach Einschätzung des Herausgebers und der Herausgeberin, einige übergreifende Strukturen feststellbar, die sich durch alle Beiträge ziehen: Erstens sei menschliche Wachsamkeit ein Phänomen, das stets in natürliche Zeitabläufe, vor allem den Tag-Nacht-Rhythmus, eingebettet sei; zweitens sei sie immer in spezifische Ensembles von Praktiken und Dingen eingebunden; drittens benötige sie den Rekurs auf verschiedene Reflexionsebenen zwischen Selbst- und Fremdbeobachtung; viertens sei sie im jeweils spezifischen historischen Kontext zu verstehen und fünftens medial vermittelt und inszeniert. Während das alles ohne Zweifel zutrifft, ist es so wenig spezifisch, dass an Stelle der Wachsamkeit hier auch die meisten anderen kulturellen Phänomene eingesetzt werden könnten. Die Tragfähigkeit und analytische Leistungsfähigkeit des Konzepts muss sich also anhand der Einzelbeiträge erweisen.

Die insgesamt neun Beiträge sind von unterschiedlicher Länge – sie umfassen zwischen 15 und 25 Seiten – und ebenso verschiedener Herangehensweise. Der der Einleitung folgende Aufsatz von Arndt Brendecke fällt dabei aus dem Rahmen, weil er einen breit angelegten Überblick über das Phänomen der Wachsamkeit und über die Behandlung dieses Phänomens in Ethnologie, Psychologie und Geschichtswissenschaft zu bieten versucht. Hier wird also nachgeholt, was in der Einleitung an Programmatik und theoretischem Aufbau zu kurz kam. Mit der Stellung als Beitrag unterhalb der Einleitungsebene – einen Schlussbeitrag der Herausgebenden gibt es nicht – wird aber bereits signalisiert, dass die hier entfaltete, ambitionierte Konzeptionalisierung für die übrigen Beiträge nicht verpflichtend ist, sodass es nicht verwundert, sie in den übrigen Aufsätzen nicht in dieser Form wiederzufinden. In der zeitlichen Dimension wird das Programm dann etwas gerafft, da die restlichen Beiträge in chronologischer Folge der behandelten Themen gereiht werden.

Mit dem Aufsatz von Susanne Reichlin zur Konstruktion von Wachsamkeit in hochmittelalterlichen Adventspredigten setzt also die eigentlich behandelte Zeitspanne ein. Die Autorin kann zeigen, dass in diesen Predigten eine eschatologische Erwartung in eine konkrete Wachsamkeit transformiert werden soll. Die folgenden Aufsätze von Christian Kiening zum »Faustbuch« von 1587, von Chiara Franceschini zum Topos des wachsamen Künstlers am Beispiel Michelangelos, von Tobias Döring zur Inszenierung schlafender Herrscher in Shakespeares Stücken und von Ewan Jones zur spirituellen englischen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts fokussieren vor allem die Frühe Neuzeit. Kiening stellt die christliche Wachsamkeit gegenüber dem Teufel, die Faust vernachlässigt, dessen Aufmerksamkeit für seine nach dem Paktschluss endliche Lebenszeit gegenüber; das ist überzeugend hergeleitet, lässt aber einen Bezug zum Gegensatz von transitiver Wachsamkeit und intransitiver Aufmerksamkeit, wie in Brendeckes Beitrag skizziert, vermissen, obwohl es sich hier dringend angeboten hätte. Franceschini stellt Michelangelo als bewusst anekdotischen Einzelfall exemplarisch für künstlerische Wachsamkeit der Frühen Neuzeit heraus, die »hypervigilante« Künstlerinnen und Künstler produziert habe, die nicht nur ihrer Inspiration, sondern auch ihren Konkurrentinnen und Konkurrenten gegenüber stets wachsam sein mussten. Döring beschreibt die Inszenierung von Schlaf und wachsamer Schlaflosigkeit bei Shakespeare zur Beanspruchung und Kennzeichnung wahrer Königsherrschaft und arbeitet die Ambiguitäten heraus, die mit der Frage einhergehen, ob und wie der gute Herrscher guten Gewissens schlafen kann. Jones stellt seine Lektüre einiger Gedichte von Herbert Vaughan, die (christliches) Wachen thematisieren, nicht nur in den Kontext der englischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, sondern auch in jenen seiner eigenen Aufmerksamkeitspraxis bei der Arbeit, um daraus eine Kritik an (allzu) formalistischen Interpretationsansätzen abzuleiten.

Christiane Brenner zeigt die zwischen den frühen 1950er- und späten 1970er-Jahren wechselnden Aufmerksamkeitskonjunkturen in der ČSSR gegenüber der Prostitution, die als »unproduktives« Gewerbe nicht in die sozialistischen Gesellschafts- und Moralvorstellungen passte, aber trotz Aufrufen zur Wachsamkeit nicht wirksam bekämpft werden konnte. Eveline Dürr und Catherine Whittaker arbeiten die gemeinschaftskonstitutive Wirkung von Wachsamkeit im Schutz gemeinschaftlicher Güter am Beispiel der hispanoamerikanischen Community in den USA und dort vor allem am Beispiel des Chicano Parks heraus, der als symbolisch wichtiger Ort besonderer Aufmerksamkeit bedarf, und Isabell Otto zeigt, dass unter Bezugnahme auf ANT‑Konzepte Smartphones als technische Medien die Konstruktion imaginierter Gemeinschaften, die wachsam geschützt werden müssen, erleichtern können.

Sowohl Antike, Frühmittelalter oder auch das 19. Jahrhundert sind in diesem Band nicht mit eigenen Beispielen vertreten. Räumlich zeigt sich eine Konzentration auf den europäischen Raum, mit den USA als einzigem nicht-europäischen Betrachtungsfeld, und inhaltlich in den vormodernen Beiträgen eine sehr starke Bezugnahme auf christliche Vorstellungen und Zusammenhänge als Strukturen, die Wachsamkeit erfordern oder kulturell formen. In markantem Kontrast dazu verhandeln die drei zeitgeschichtlichen Beiträge politische Strukturen, die entweder von staatlicher Seite (Brenner, Otto) oder im Widerstand gegen staatliches Handeln (Dürr/Whittaker) maßgeblich geformt wurden. Die Aktualitätsbezüge, die vor allem die vormodernen Themen durch spezielle Aufhänger herzustellen versuchen, wirken teilweise konstruiert; es gibt keine Verweise der Beiträge untereinander und oder auf explizite Bezugnahmen auf die theoretischen Vorannahmen. So bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück: Während die Tragfähigkeit des Konzepts eingängig demonstriert wird, bleiben seine konkrete Gestalt diffus und seine analytische Leistungsfähigkeit unklar. Es wird deutlich, dass man Vigilanzkulturen dergestalt untersuchen kann; aber wohin diese Untersuchungen zielen, das müssen wohl die Folgebände der Reihe zeigen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Tobias Winnerling, Rezension von/compte rendu de: Arndt Brendecke, Susanne Reichlin (Hg.), Zeiten der Wachsamkeit, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2022, 232 S., 26 Abb. (Vigilanzkulturen/Cultures of Vigilance, 1), ISBN 978-3-11-076513-7, EUR 39,95., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103655