Die Thematik der Freundschaft hat in der Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit Konjunktur. Der vorliegende Sammelband geht dieses Thema mit einer doppelten Schwerpunktsetzung an. Zum einen stammt er zwar aus dem Feld der Literaturwissenschaft, ist aber von seiner Herangehensweise an der Schnittstelle von Literatur und Geschichte, namentlich Ideengeschichte, angesiedelt. Zum anderen kombiniert er die Thematik der Freundschaft mit der verwandten Thematik der Liebe und analysiert die Rolle beider Beziehungsformen in der Literatur des französischen 17. Jahrhunderts. Dabei macht es durchaus den Reiz des Bandes aus, dass er ein Durchgang durch viele der großen literarischen Klassiker des Grand Siècle anhand der Leitfrage von Freundschaft und Liebe ist.

In der Einleitung weisen die beiden Herausgeberinnen Delphine Calle und Astrid Van Assche auf die mannigfaltigen Schattierungen hin, die die beiden Beziehungsformen »amour« und »amitié« im Denken und in der Literatur der Zeit aufweisen. Die Aufsätze des Buches sind unter zwei Großrubriken angeordnet, nämlich »Amitiés passionnées et amours tempérés« (sieben Aufsätze) und »Les limites de l’amour et de l’amitié« (neun Aufsätze).

Der erste Teil beginnt mit dem Beitrag von Christophe Gillain, der anhand zweier adliger Memoirenautoren, Henri de Campion und des Sieur de Pontis, Situationen untersucht, in denen aus der Versöhnung nach einem Duell Freundschaften entstanden. Nicolas Garroté nimmt die Briefe Madame de Sévignés an ihre Tochter, Madame de Grignan, in den Blick, und geht der Frage nach, inwiefern sich hier die beiden Beziehungsformen von mütterlicher Liebe und Freundschaft verbinden. Frédéric Briot stellt die Frage nach der Freundschaft zwischen Männern und Frauen anhand der »Carte de Tendre« aus dem Roman »Clélie« von Madeleine de Scudéry – wobei er unterstreicht, dass diese berühmte Darstellung menschlicher Beziehungen in Form einer imaginären Landkarte von der Freundschaft, und nicht etwa von der Liebe, handele. Aurélie Bonnefoy-Lucheri stellt die Beziehung zwischen Ludwig XIV. und seiner zweiten Ehefrau Madame de Maintenon in das Spannungsfeld von Liebe und Freundschaft.

Véronique Joucla widmet sich in ihrem Aufsatz den auf das Feld der Liebe bezogenen Fragen in Théophraste Renaudots »Conférences du Bureau d’Adresse«. Sie kommt zu dem Schluss, dass die von ihr untersuchten Texte zwar einerseits an der Idee der Überlegenheit der Männer über die Frauen festhielten, andererseits aber skeptisch hinsichtlich der Frage seien, ob es auch in der Macht der Männer liege, in der Ehe bestimmend zu sein (S. 91). Stéphane Bailly nimmt die Sokrates-Novelle der Madame de Villedieu in den Blick und bettet sie in die Thematik des Verhältnisses des Sokrates zu den Frauen in der literarischen Tradition seit der Antike ein. Damien Crelier stellt die Frage, warum Liebesbeziehungen in den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon eine so geringe Rolle spielen, und argumentiert in überzeugender Weise, dass der Herzog eine ernste Geschichtsschreibung anstrebte, die er deutlich von allem Romanhaften, wo die Liebesthematik ihren Platz hatte, abgrenzen wollte.

Der zweite Teil beginnt mit dem Aufsatz von Patricia Toboul. Sie nimmt drei religiöse Denker in den Blick, nämlich Senault, Malebranche und Fénelon. Sie standen in der Tradition des Augustinus, und somit waren alle drei hinsichtlich der Thematik der Freundschaft mit derselben Frage konfrontiert, nämlich derjenigen, ob seit dem Sündenfall, der die menschliche Natur verdorben hatte, wahre Freundschaft überhaupt noch möglich sei. Wie Toboul zeigen kann, verneint Senault dies, während Malebranche und Fénelon durchaus die Chance sehen, dass dies dennoch möglich sei. Die nächsten beiden Beiträge sind Blaise Pascal gewidmet. Pierre Lyraud analysiert die Stellen in den »Pensées«, wo die Freundschaft erwähnt wird. Églantine Morvant stellt die interessante Frage, warum in den »Pensées«, immerhin einem Text des christlichen Denkens, eine zentrale christliche Idee, nämlich die Nächstenliebe, nicht vorkommt. Sie kann diesen scheinbaren Widerspruch dadurch erklären, dass für Pascal die Liebe des Gläubigen zu Gott die Voraussetzung für alles Weitere, und damit auch für die wahre Nächstenliebe ist.

Elizaveta Al-Faradzh untersucht die Brieffreundschaft zwischen Antoine Arnauld, einem der wichtigsten Vertreter des Jansenismus, und der frommen Adligen Madame de Fontpertuis. Justine Le Floc’h erläutert, welche Überlegungen von Denkern des Grand Siècle hinsichtlich der Idee der brüderlichen Zurechtweisung, einem traditionellen Konzept christlichen Denkens, angestellt wurden. Sie kann dabei zeigen, dass die von ihr untersuchten Autoren eher zur Zurückhaltung mahnen: Da die Zurechtweisung, wenn sie wirklich Ausdruck der Nächstenliebe sein soll, frei von allem Hochmut und aller Boshaftigkeit sein muss, so gibt es wenige Gelegenheiten, wo sie wirklich geübt werden kann.

Die letzten vier Aufsätze dieses zweiten Teils sind alle dem Theater des Grand Siècle gewidmet. David Franco untersucht anhand zweier Dramen, welche Rolle die Liebe für die Rolle des Helden bei Corneille spielt. Während Nicomède im gleichnamigen Drama die Zuneigung aller anderen Personen gewinnt, scheitert im Drama »Sertorius« der namengebende Held an seiner Unfähigkeit zu handeln. Wie Franco postuliert, muss ein erfolgreicher Dramenheld bei Corneille sich auf der Bühne als Held in Szene setzen, wohingegen Sertorius zwar das Wohlwollen aller geniest, aber untätig bleibt.

Joseph Harris untersucht das Konzept der Freundschaft in Molières Komödie »Le Misanthrope«. Er kann zeigen, dass der Protagonist Alceste eine überhöhte Vorstellung von der idealen Freundschaft pflegt und die real vorkommenden Freundschaften seiner Mitmenschen als verfälschte Formen der Freundschaft verachtet. Lise Forment nimmt die tragische Dreiecksbeziehung in Racines Tragödie »Bérénice« in den Blick, in der Liebe und Freundschaft miteinander verschränkt sind. Bérénice liebt Titus; dieser ist mit Antiochus befreundet, der Bérénice ebenfalls liebt, dies aber nicht offen zeigt, sondern mit ihr einen freundschaftlichen Umgang pflegt. Jennifer Tamas schließlich untersucht, wie Racine die beiden Phänomene der Liebeserklärung und des Schweigens einsetzt, um die Handlung der Tragödie in die Katastrophe zu führen, etwa wenn zwei Liebende ihre Gefühle geheim halten müssen, da sie von Feinden bedroht werden. Racine legt die Handlung dann so an, dass die Geheimhaltung, also das Schweigen, bei den Beteiligten Zweifel an der Zuneigung des jeweils anderen hervorruft, bis einer der beiden seine Gefühle offen gesteht, dieses Geständnis aber belauscht wird und so beide ins Verderben gestürzt werden.

Die Aufsatzsammlung zeigt anschaulich die Bandbreite des Denkens über Liebe und Freundschaft im Grand Siècle; sie kann für die Kulturgeschichte des französischen 17. Jahrhunderts wertvolle Anregungen geben, die auch für die Geschichtswissenschaft fruchtbar sein können.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Kühner, Rezension von/compte rendu de: Delphine Calle, Astrid Van Assche (dir.), L’Amour et l’Amitié au Grand Siècle, Paris (Classiques Garnier) 2022, 313 p. (Rencontres, 550; Le Siècle classique, 17), ISBN 978-2-406-13332-2, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103657