Am Diskurs über den Sehvorgang lässt sich – so Evelyn Dueck – besonders deutlich zeigen, was die Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel von Vernunft und Affekt, von Geist und Körper im 17. und 18. Jahrhundert charakterisierte. »Was wussten und was dachten die Forscher des 17. und 18. Jahrhunderts über das Sehen?«, ist die Frage, die sie in ihrer Habilitationsschrift an »historische Texte aus den Bereichen der Philosophie, der Naturforschung, der Optik und Astronomie sowie der Ästhetik und Kunsttheorie« richtet (S. XLIV).
Dueck zielt darauf, die These eines »klassischen Wahrnehmungsmodells« auf den Prüfstand zu stellen, das als eines der Epochenmerkmale von »Aufklärung« für die Zeit bis zumindest 1750 als prägend gelte (S. XLIV–XLV). Der Epoche der Aufklärung werde »nicht nur eine besondere Vorliebe für den Sehsinn und das Licht nachgesagt, sondern auch ein bestimmtes ›Wahrnehmungsmodell‹, das von dem Topos des kalten, distanzierten und klassifizierenden Blicks geprägt sei« (Klappentext). Dieses Modell erweist sich jedoch als Scheinriese: In der Forschung wird dies, wie Dueck bereits in der Einleitung vorführt, in derart zugespitzter Form kaum formuliert, und es lässt sich, wie die Kapitel des Hauptteils zeigen, keineswegs ohne Weiteres an Quellen rückbinden. Auch Dueck selbst bezeichnet es als »beinah evidente These, dass die Beschreibung des klassischen ›Wahrnehmungsmodells‹ einer Nuancierung bedarf« (S. XLVI).
Diese Rahmung lenkt eher ab von dem, was sie in ihrer Studie leistet: Dueck untersucht theoretische Texte zur (Seh-)Sinnesempfindung des Zeitraums 1604 bis 1778, genauer: deren Beiträge zu dem Problem, »wie der Mensch auf der Basis eines zweidimensionalen, verkleinerten und auf dem Kopf stehenden retinalen Bildes die ihn umgebende Welt dreidimensional, zumindest annähernd ihrer tatsächlichen Größe entsprechend und aufrecht wahrnehmen kann« (S. XLVI). Durch diesen geschickt gewählten Fokus auf ein epistemologisches Problem gelingt Dueck eine instruktive und anregende Darstellung der vielstimmigen und vielfach aufeinander bezugnehmenden Thematisierungen des Sehens in diesem Zeitraum.
In den Analysen des Hauptteils – und darin liegt die große Stärke des Buchs – bringt Dueck in vier Kapiteln zusammen, was bedingt durch verschiedene disziplinäre Perspektiven nicht selten getrennt voneinander beforscht wird. Thema des ersten Kapitels ist die Diskussionsgrundlage, auf der im 17. und 18. Jahrhundert die Beschäftigung mit dem Sehvorgang erfolgte: Der Wissensstand aus Optik und Anatomie sowie Erklärungen des Sehens (mechanisch-passiver vs. sinnlich-aktiver Vorgang), wofür Dueck die Arbeiten von Johannes Kepler, René Descartes, Marin Mersenne und Pierre Gassendi vorstellt. Das zweite Kapitel »Die Grenzen des Sehens« befasst sich mit Positionen zu den Voraussetzungen menschlichen Erkennens auf Körper- und Verstandesebene, ferner zu den Eigenschaften des Gesehenen und zum Sehen als Lernprozess. Hier treten nun u. a. Francis Bacon, Christian Huygens, Robert Hooke, Jacques Rohault, John Locke, Nicolas Malebranche, George Berkeley, Jean Théophile Desaguliers und William Cheselden hinzu.
In diese ersten beiden Kapitel sind je zwei Exkurse eingebunden, die den Implikationen der vorgestellten Theorien für die zeitgenössische Bewertung bestimmter Einzelaspekte nachgehen: Anhand der Augen der Tiere (Exkurs I) wurde das Spannungsverhältnis zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung thematisiert und Theorien der Sinnesempfindung verschränkten sich mit Fragen nach der Differenz von Mensch und Tier. An den blinden Fleck (Exkurs II) knüpften sich methodische Diskussionen über einzelne Forschungsschritte und den Status von Schlussfolgerungen. Exkurs III stellt am Beispiel Thomas Hobbes’ die Verbindung von Sinnes- und Gesellschaftstheorie vor. Die Augen der Frauen (Exkurs IV) wurden im Untersuchungszeitraum insbesondere vor dem Hintergrund der Annahme diskutiert, dass die Seheindrücke von Schwangeren sich auf ihre ungeborenen Kinder auswirken könnten.
Im dritten Kapitel untersucht Dueck Texte, die sich der Möglichkeit des Weltzugangs durch die Sinne widmen und den Faktoren, die eine Auswahl von Wahrgenommenem oder eine Lenkung von Wahrnehmung bewirken. Positionen zu sinnlicher Erfahrung und Erkenntnisvermögen, Begriffsbildung und Wahrnehmung innerer Bewegtheit, schließlich zum Verhältnis von Natur und Kunst zeigt sie dabei anhand der Schriften von Christian Thomasius, Christian Wolff, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Christoph Gottsched, Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier und Johann Georg Sulzer. Das vierte Kapitel thematisiert anhand der Arbeiten Johann Gottfried Herders Parallelisierungen zwischen Sinnesempfindungen, Leidenschaften und Denken: Die These der Eingebundenheit des Menschen in die ihn umgebende Welt mündet hier nicht nur in eine Verschränkung von Wahrnehmungsentwicklung und Kulturgeschichte, sondern auch in die Postulierung der Einheit von Erkennen und Empfinden, wo Dichten und Forschen zusammengehen.
Dueck argumentiert eng auf die Quellen bezogen und gibt durch originalsprachliche Zitate häufig Gelegenheit, die von ihr herausgearbeiteten Besonderheiten der Positionen der einzelnen Sinnestheoretiker im Detail nachzuvollziehen. In ihrer Auswahl der eingehend behandelten Theorien finden sich nicht wenige prominente Titel mit längerer Forschungstradition, doch berücksichtigt Dueck über die oben genannten hinaus noch deutlich mehr zeitgenössische Stimmen. Sie bezieht dafür neben sinnestheoretischen Schriften beispielsweise Rezensionen, Briefe oder Nachrufe mit ein, sodass zum jeweils untersuchten Haupttext Zu- oder Widerspruch von Rezipienten miterfasst werden. Auch wenn manches davon im Anmerkungsapparat Platz gefunden hat, ergibt sich bei der Lektüre ein plastischer Eindruck des gelehrten Diskurses und der Vehemenz, mit der die Epistemologie des Sehens in unterschiedlichen Foren verhandelt wurde.
So bietet Duecks Arbeit, die als Open-Access-Titel erschienen ist, einen frischen und überzeugenden Zugang zu Theorien des Sehens im 17. und 18. Jahrhundert und trägt bei zur Historisierung von Sinnesempfindungen über gegenwärtige Fachgrenzen hinweg.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Julia Carina Böttcher, Rezension von/compte rendu de: Evelyn Dueck, Die »krumme Bahn der Sinnlichkeit«. Sehen und Wahrnehmen in Optik, Naturforschung und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Leiden (Brill Academic Publishers) 2022, 420 S., 16 s/w Abb. (Laboratorium Aufklärung, 37), ISBN 978-3-7705-6740-9, EUR 97,61., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103660