Der vorliegende Sammelband zu preußischen Staatsmännern vor der Reformzeit resultiert aus einer Tagung, die am 22. und 23. Oktober 2021 im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam stattfand. Der Band verfolgt zwei Ziele: Karrieren von einzelnen höheren Verwaltungsbeamten in Preußen nachzuzeichnen und den im 18. Jahrhundert zeitgenössischen Begriff des Staatsmannes mit den damit verbundenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen zu untersuchen. Er versucht zudem die Frage zu beantworten, ob ein »borussischer Typus« von Staatsmann im Alten Reich existierte und was diesen gegebenenfalls ausmachte. Als Untersuchungszeitraum wurde das halbe Jahrhundert vor dem Zusammenbruch des preußischen Staates im Jahre 1806 gewählt, mit der Absicht die personellen und ideologischen Voraussetzungen der preußischen Reformen innerhalb der Verwaltung zu beleuchten. Gleichzeitig handelt es sich bei dem Zeitraum von 1740 bis 1806 um eine Periode in der sich Handlungsspielräume von Beamten bzw. Staatsmännern verschoben, da sich Vorstellungen von Staat grundlegend wandelten.
Die zehn Beiträge widmen sich der Ausbildung, den Weltbildern, dem Handeln und den Karrierestrukturen einzelner oder von Gruppen preußischer Beamter. Stützen können sie sich auf die umfassenden, aktenbasierten prosopografischen Arbeiten Rolf Straubels zum preußischen Beamtentum im 18. Jahrhundert1. Das Verdienst des Großteils der Beiträge des Sammelbandes liegt in den neuen methodischen Zugängen zu Akteuren, deren Biografien in vielen Fällen bekannt sind.
Drei Beiträge aus dem Feld der historischen Bildungsforschung beleuchten die Ausbildung bekannter Reformer mittels eines sozialisationshistorischen Zugangs. Julia Kurig fragt nach dem Einfluss des dänisch-schleswig-holsteinischen Sozialisationsraumes auf die bürgerlich-liberale Orientierung des Finanzbeamten Barthold Georg Niebuhr und des Bildungsreformers Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, die beide Teile ihrer Kindheit/Jugend oder frühen Karriere in diesem Raum verlebt hatten. Ein Kausalzusammenhang zwischen der »nordischen« Sozialisation und späterem Reformhandeln lässt sich, zumal ohne Vergleichssample, nicht herstellen. Carola Groppe vergleicht anhand des adeligen Justizministers Karl Abraham von Zedlitz und des Pfarrerssohns und späteren Finanzministers Carl August Struensee zwei sehr unterschiedliche Sozialisationswege, die in eine ähnliche aufgeklärte Weltanschauung und rationale Reformtätigkeit mündeten. Beide verlebten eine Lernkindheit in heterogenen Peergroups, studierten an der Universität Halle und frequentierten ähnliche aufgeklärte Zirkel in Berlin. Einen Vergleich von Sozialisation und Wirken drei verschiedener Bildungsreformer am Übergang von der aufklärerischen zur neuhumanistischen Pädagogik zieht Jonas Flöter anhand der Beispiele der preußischen Schul- und Staatsmänner Johann Heinrich Meierotto und Friedrich Gedike sowie dem Rektor der Leipziger Thomasschule Johann August Ernesti. Auch er findet größtenteils Gemeinsamkeiten in Bildung und Gedankengut dieser Schulmänner.
Einen ideengeschichtlichen Ansatz verfolgen die Beiträge von Tim Friedrich Meier und Jürgen Overhoff. Meier liefert eine fundierte Detailstudie zur Rolle von ökonomisch-politischem Wissen in den ersten Reformversuchen des preußischen General-Judenreglements in den späten 1780er Jahren. Er stellt die Auseinandersetzung zwischen den jüdischen Petenten und der Staatsverwaltung als eine Auseinandersetzung zwischen einer liberalen und einer etatistischen Denkschule dar. Meier führt die vom Motiv der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Steuerung geprägte Haltung der preußischen Staatsbeamten auf ihre Ausbildung in der Kameralistik zurück, wie sie an der Universität Halle seit 1727 von Spätmerkantilisten gelehrt wurde. Damit liefert er nebenbei ein Charakteristikum der preußischen Staatsbeamten, nämlich ihre vornehmliche Ausbildung an der Hallenser juristischen Fakultät. Overhoff widmet sich in seinem Beitrag der Herausbildung eines sogenannten »preußischen Stils« preußischer Staatsmänner, wie ihn Wilhelm von Humboldt kultivierte. Es handelt sich laut Overhoff dabei um die zur Schau gestellte widerwillige Pflichtübernahme zum Wohle des Staates, die sich auf Humboldts Verschreibung gegenüber radikalen Reformen von oben, seine Orientierung an der klassischen Antike und die Rezeption der platonischen Staatsphilosophie zurückführen ließe. Vorreiter und Vorbild dieses Stils sei Friedrich II. mit seiner Philosophie vom ersten Diener des Staates gewesen.
Astrid Albert untersucht in einem emotions- und gendergeschichtlichen Beitrag die Männlichkeitsvorstellungen Ludwig von Vinckes, der seit 1815 Oberpräsident der neuen Provinz Westfalen war, und ihre Wechselwirkungen mit seiner amtlichen Tätigkeit. Sie arbeitet anhand von Vinckes Tagebuchaufzeichnungen seine Ideen von Liebesheirat, häuslicher Glückseligkeit, gemeinsamer Kindererziehung und dem Dienst am Gemeinwohl heraus. Dabei betont sie den Generationenkonflikt zwischen Vincke und seinem Vater, dessen Vorstellungen von Männlichkeit und Politik von ständischen und dynastischen Motiven geprägt waren.
Traditionellere, politik- und verfassungsgeschichtliche Ansätze bieten die Aufsätze von Michael Rohrschneider und Wolfgang Burgdorf. Ersterer beleuchtet das Handeln der drei friderizianischen Reichstagsgesandten, Adam Heinrich von Pollmann, Erich Christoph Freiherr von Plotho und Joachim Ludwig von Schwarzenau hinsichtlich ihrer fortschreitenden Professionalisierung. Der Fokus liegt auf Plothos Politik der Behauptung angesichts der Reichskriegserklärung an Preußen im Jahr 1757. Burgdorf liefert Porträts der wichtigsten positivistischen Staatsrechtslehrer des Alten Reiches Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter. Dabei klingt ein das gesamte Reich betreffende Charakteristikum der um 1806 agierenden Staatsmänner an: ihre Prägung durch Pütters Staatsrecht.
Einen adelsgeschichtlichen Fokus auf die Karriereverläufe und Werte preußischer Staatsbeamter nimmt Frank Göse ein. Anhand von Beispielen mehrerer märkischer Amtsträger aus dem niederen Adel zeigt er einerseits die Anpassungsschwierigkeiten des Adels an Bürokratisierungs- und Professionalisierungstendenzen und andererseits das zunehmende adelige Streben nach Eintritt in den Staatsdienst. Überzeugend weist er die These von einem spezifisch preußischen adeligen Gehorsam gegenüber dem Staat zurück.
Die Wechselwirkungen zwischen Hof- und Staatsamt reißt Thomas Stamm-Kuhlmann an, indem er Überschneidungen von Kammerherrntitel und anderen großen Hofchargen mit staatlichen Ämtern nachweist, womit er die Kontinuität von Klientelpolitik im sich rationalisierenden Staat des späten 18. Jahrhunderts andeutet.
Es handelt sich um einen vielfältigen und inhaltsreichen Band. Bei den methodischen und inhaltlichen Überschneidungen mehrerer Beiträge – erwähnt sei nur der Fokus auf Ausbildung und (intellektuelle) Sozialisation der Staatsmänner – wäre allerdings eine abschließende Synthese wünschenswert gewesen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Annelie Große, Rezension von/compte rendu de: Georg Eckert, Carola Groppe, Ulrike Höroldt (Hg.), Preußische Staatsmänner. Herkunft, Erziehung und Ausbildung, Karrieren, Dienstalltag und Weltbilder zwischen 1740 und 1806, Berlin (Duncker & Humblot) 2023, 276 S. (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Forschungen, 21,1), ISBN 978-3-428-18869-7, EUR 89,90., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103661