Der Herausgeber Helmut Hühn berichtet im einleitenden Beitrag zu diesem Sammelband davon, wie sich an der Universität Jena eine Tradition öffentlicher Antrittsvorlesungen herausgebildet hat, die 1821 dann auch in den Statuten der Salana verankert wurde. Die berühmteste aller Antrittsvorlesungen ist Friedrich Schillers »Was ist und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« (1789). Gestiftet wurde die Tradition aber allem Anschein nach im Jahr zuvor, als der Philosoph Carl Leonhard Reinhold, der Jena zum Zentrum des Frühkantianismus machte, in ähnlicher Weise Aufsehen erregte mit seiner Antrittsvorlesung »Ueber den Einfluß des Geschmackes auf die Kultur der Wissenschaften und Sitten«. Fortgesetzt wurde diese Tradition von Johann Gottlieb Fichte 1794 mit »Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten«, und auch Schellings »Vorlesungen über die Methode des academischen Studium« (1802) ließen sich hier anreihen. Man weiß, dass die Universität Jena, nicht zuletzt durch Wilhelm von Humboldts Aufenthalt dort in der entscheidenden Phase, auch auf die Gründung der Universität Berlin ausgestrahlt hat. Insofern handelt es sich hier nicht um Exempel partikularer Universitätsgeschichte, sondern um wichtige Grundsatzreden in der Entwicklungsgeschichte deutscher Universitäten.

Der Jenaer Frühneuzeithistoriker Georg Schmidt greift das Thema Schiller und die Geschichte auf; er ergänzt die Antrittsvorlesung um Ausblicke auf die historischen Werke Schillers. Seine Hauptthese steht schon im Untertitel: »Geschichte beglaubigt, Schönheit bewirkt« (S. 33). Schiller schafft eine besondere Funktion für die Künste, indem er ihnen eine humanisierende Bedeutung für die Entwicklung jedes Einzelmenschen, aber auch des ganzen Menschengeschlechtes zuschreibt. Schillers großes Thema Freiheit wird retrospektiv zum Feld des Historikers, prospektiv aber zur Aufgabe des Künstlers, des Dichters.

Die Jenaer Praktische Philosophin Andrea Marlen Esser stellt umfangreiche und eindringende »Überlegungen zu Schillers Kant-Rezeption in den ästhetischen Vorlesungen« an. Die berühmte Formel »Freiheit in der Erscheinung« wird nach Genese und Geltung befragt. Esser begleitet Schiller bei seinem 1791 einsetzenden intensiven Studium von Kants »Critik der Urtheilskraft«, die seine Ästhetik grundlegend beeinflusst hat, indem sie ihm Begriffe zur Diskussion bereitstellte und seine eigene, durch praktisch-dichterische Erfahrung bewährte Reflexion anregte. Sie zieht zur Interpretation sowohl Schillers Ästhetik-Vorlesungen als auch seine einschlägigen Schriften heran. Traditionell besteht Uneinigkeit darüber, ob Schiller Kant letztlich missverstanden oder ob er die Grenzen der Kant’schen Ästhetik erweitert habe. Esser neigt wohl zur letzteren Position. Schillers Formel »Freiheit in der Erscheinung« sollte einen »sinnlich-objektiven« Weg in der Ästhetik eröffnen (im Gegensatz zum bloß »sinnlich-rationalen« Kants).

Der Jenaer Philosoph Andreas Schmidt (Schwerpunkt: Deutscher Idealismus) vergleicht im abschließenden Beitrag die Antrittsvorlesungen Schillers und Fichtes unter dem Gesichtspunkt »Herausforderung der Geschichte«. Zwischen beiden Daten liegt bekanntlich der Ausbruch der Französischen Revolution, und für Schmidt ist es offensichtlich, dass diese realhistorische Veränderung auch für die Veränderung der gedanklichen Problematik beider Antrittsvorlesungen entscheidend war. Während Schiller sich zwar sehr wirksam adhortativ an seine Studenten wendet, aber eben im Rückblick auf die aufklärerisch zu verstehende Geschichte, nimmt Fichte mit ähnlicher Intention vor allem die Zukunft in den Blick. Fichte spricht in einem Klima neuer Dringlichkeit; seine Rede ist aktivierend: »Von dem Fortgange der Wissenschaften hängt unmittelbar der ganze Fortgang des Menschengeschlechts ab. Wer jenen aufhält, hält diesen auf« (S. 119). Unter Heranziehung späterer Äußerungen macht Schmidt deutlich, dass sich Schiller und Fichte in der Deutung der Französischen Revolution in ihrem Fortgang unterschieden, dass dies jedoch nicht zu einer entscheidenden Wegtrennung im Blick auf die Deutung der Funktion der Geschichte und die darin eingebettete Entwicklung der Künste geführt hat.

Das repräsentativ gestaltete Bändchen bringt zwar kaum Neues; es scheint im Wesentlichen der Traditionspflege zu dienen. Einer wichtigen Tradition freilich, welche Schlaglichter auf die Bedeutung der Freiheit der Wissenschaften und der Kunst für die Humanisierung mit Reflexen auf die Institution Universität verbindet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Maurer, Rezension von/compte rendu de: Helmut Hühn, Nikolas Immer, Ariane Ludwig (Hg.), Freiheit im Werden? Schillers Vorlesungen an der Universität Jena, Hannover (Wehrhahn Verlag) 2022, 136 S., ISBN 978-3-86525-982-0, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103666