Martin Mulsow verfolgt in diesem Buch die grundlegende Zielsetzung, »Perspektiven für eine globale Ideengeschichte aufzuzeigen – vor allem für die frühen Phasen der Globalisierung in der Vormoderne« (S. 475) –, einen historischen Zeitraum, den er auch als eine »Epoche der riskanten Referenz« (S. 56) charakterisiert. Das Buch umfasst sieben Fallstudien, die drei großen Teilen zugeordnet sind: »Zeitrahmen, transkulturell« (I), »Fremde Natur und Sprache« (II) und »Häresie, global« (III). Eine Weltkarte, die zwischen Inhaltsverzeichnis und Vorwort eingefügt ist, zeigt 12 Städte auf vier Kontinenten, quer über den Globus verstreut – von Batavia und Nanjing über Isfahan, Memphis (in Ägypten), Paris, Hamburg und Amsterdam bis nach Kapstadt im südlichen Afrika und nach Potosí im heutigen Bolivien (und dem damaligen Vizekönigreich Peru) –, die in den verschiedenen Fallstudien sukzessive in den Blick gerückt und zwischen denen vielfältige Verbindungen und Verflechtungen aufgezeigt werden. Eingerahmt werden diese Fallstudien von einer sehr anregenden, knapp 60 Seiten umfassenden theoretischen Einleitung mit dem Titel »Praktiken der Bezugnahme im Prozess der Globalisierung« und einem gleichfalls theoretisch ausgerichteten »Epilog« (S. 475‑481), der die Überschrift »Mikrohistorie, Globalgeschichte und die Rekonstruktion intellektueller Praktiken« trägt.

Mulsows Ansatz schließt in mancher Hinsicht an Carlo Ginzburgs Konzeption der Mikrogeschichte an. Wie Ginzburgs Studien weisen seine historiografischen Fallstudien eine »Teppichstruktur« auf, »nach der Verknüpfungen in vertikalen, horizontalen und diagonalen Richtungen nachzugehen ist« (S. 48). Sie sind von dem Impetus der detektivischen Spurensuche geprägt, die Ginzburg insbesondere in seinem Aufsatz »Spie« (Fährten)1 theoretisch begründet hat. Mulsow visiert jedoch einen völlig anderen, sehr viel breiteren Gegenstandsbereich als Ginzburg an – die Globalgeschichte der Frühen Neuzeit – und erweitert den mikrohistorischen Ansatz um andere Theorieansätze, Konzepte und Begrifflichkeiten: in erster Linie um theoretische und methodische Ansätze wie die Modelle des Kulturtransfers, der kulturellen Übersetzungstheorie, der Verflechtungsgeschichte (oder Histoire croisée bzw. Shared History) und der interkulturellen Hermeneutik. Im Zuge der Fallstudien werden auch methodische Ansätze der Ethnologie und Anthropologie, der Kultursemiotik sowie der Kunsttheorie (insbesondere von Aby Warburg) in sehr kreativer Weise herangezogen. Muslow verbindet diese Ansätze mit einer eigenen, zum Teil recht spezifischen Begrifflichkeit, in die im Einleitungsteil und in den einzelnen Fallstudien eingeführt wird. Hierzu zählen zentrale Konzepte wie »Überreichweiten«, »Fehlreichweiten« und »Unterreichweiten«, »referentielle Lieferketten«, »Identifizierungswissen«, »Resonanzräume«, »Referenzjagd«, Transmissionsprozesse«, »Transversalität« sowie »reziproke« und »transversale Bezugnahmen«. Eine zentrale Rolle spielen auch, wie der Vf. in seinem »Epilog« zusammenfassend unterstreicht, die Konzepte der »Doppelhelix«, der »Multireferentialität« und der »Triangulation«. Unter »Doppelhelix« wird die Kombination von Transmissions- (oder Transfer )Geschichte und Gedächtnisgeschichte verstanden; »Multireferentialität« zielt auf die Erfassung der »Unterschiedlichkeit der Bezugnahmen, die bei der Kopräsenz verschiedener Kulturen an einem Ort« (wie Batavia oder Potosí, die im Rahmen von Mikrostudien analysiert werden) stattfindet. Triangulation schließlich liegt (S. 478), so Mulsow, vor, »wenn die Bezugnahme sich virtuell zugleich auf ein anderes Objekt richtet, das das Paradigma zum Verstehen des eigentlich gemeinten Objektes abgibt« (S. 479) – wie zum Beispiel der Rückgriff von Reisenden und Historikern der Frühen Neuzeit auf die europäische Antike, um Erfahrungen und Beobachtungen in Amerika zu verarbeiten und zu strukturieren. Auch die theoretischen Begriffe der »Konstellation« und der »sozialen Epistemologie« stellen wichtige theoretische Konzepte dar, die dazu dienen, intellektuelle Netzwerke und ihre Problemlösungsdynamik zu beschreiben, wie Mulsow sehr anschaulich in Kapitel V »Leibniz’ chinesische Bücher« (S. 284–336) am Beispiel des Intellektuellennetzwerks Leibniz – Cuper – La Croze aufzeigt, das sich in seiner Fallstudie ebenso ausgiebig wie intensiv mit der Entschlüsselung einer alten Inschrift aus Sibirien beschäftigt. Dieses Netzwerk bestand aus einer »Kernkonstellation« (der drei genannten Gelehrten, die vor allem, aber nicht ausschließlich, in Briefkontakt standen) und einer erweiterten Konstellation. »Eine Konstellation«, so erläutert Mulsow, »ist ein Netzwerk immer dann, wenn die wechselseitigen Kontakte sehr dicht sind und auch sehr produktiv, so dass der intellektuelle Mehrwert weit mehr als nur die Summe der gedanklichen Einzelleistungen ausmacht« (S. 287). Das Beispiel zeigt, dass es Mulsow gelingt, die entwickelten theoretischen Bezugnahmen und Begriffe immer wieder anschaulich mit sehr konkreten empirischen Befunden zu verbinden und somit ihre heuristische Fruchtbarkeit aufzuzeigen. Die sieben, im Zentrum des vorliegenden Werkes stehenden Fallstudien sind ebenso facettenreich wie unterschiedlich: sie reichen von der theologischen Diskussion über die Präadamiten über eine globalgeschichtliche Sicht der frühneuzeitlichen Alchimie, die einen unerwarteten, aber durchaus sehr aufschlussreichen Fokus auf die holländische Kolonialstadt Batavia richtet, bis hin zur Skizze einer Globalgeschichte der Häresie, die aus europäisch christlich-jüdischer Perspektive sowie nach einem Perspektivenwechsel aus islamischem Blickwinkel und anhand arabischer Quellenzeugnisse entwickelt wird. Mulsow bezieht die Leserinnen und Leser gezielt in die Konstruktion und Exploration dieser jede für sich faszinierenden Fallstudien ein, indem er beständig Fragen stellt, Hypothesen formuliert und mögliche Quellen aufspürt, aber auch Zweifel äußert sowie Sackgassen und Erkenntnisschranken aufzeigt, die auf fehlenden oder verlorengegangenen Quellen und schließlich auch auf – aus heutiger Sicht – Verstehensgrenzen und – derzeit – unüberwindlichen kulturellen und sprachlichen Übersetzungsproblemen beruhen.

Martin Mulsows Buch ist ein ebenso anregendes wie faszinierendes Werk. Es lohnt sich ganz ohne Zweifel, sich auf die Lektüre der knapp 500, sehr dichten Textseiten und der anschließenden fast 200 Seiten Anmerkungen einzulassen, einschließlich ihrer zahlreichen, gelegentlich mäanderartig anmutenden Argumentationsstränge und Digressionen (die zu Beginn S. 48 mit Überlegungen zu einer »Theorie der Abschweifung« begründet werden), zumal der Verfasser es sehr gut versteht, seine Leserinnen und Leser durchgehend wie an einem roten Faden zu führen und schließlich in präzisen Fazits am Ende der Kapitel immer wieder das Wesentliche in den Blick zu rücken. Und Martin Mulsow gelingt es auch, durch die Intensität und Kreativität seines Sprachstils und das Bemühen, im Erzähl- und Argumentationsduktus eine gewisse »detektivische« Spannung zu erzeugen, die Leserin und den Leser bei der Stange zu halten und häufig geradezu zu fesseln. Sein Buch ist ein Werk von beeindruckender Gelehrsamkeit, das zugleich permanent in erfrischender Weise grundlegende methodische und theoretische Fragen aufwirft und – meist tentative und provisorische – Antworten hierauf zu formulieren sucht. Es bietet eine Überfülle von Material und eine Vielzahl von Anregungen und weiterführenden Perspektiven, auch in interdisziplinärer Hinsicht. Aber es wirft zugleich auch Fragen auf, aus der Sicht des Rezensenten vor allem in dreifacher Hinsicht.

Erstens mag erstaunen, dass Martin Mulsow die eingangs von ihm nachdrücklich unterstrichene Notwendigkeit, eine globale Ideengeschichte möglichst kooperativ, zusammen mit Autorinnen und Autoren verschiedenster Disziplinen, zu schreiben, selbst nicht einzulösen versucht. Sein Werk knüpft an die Tradition des individuellen Universalgelehrtentums an und ist deswegen auch sprachlich, theoretisch und argumentativ sehr kohärent. Mulsow präsentiert immer wieder faszinierende Quellenfunde und vertieft sich textkritisch und philologisch präzise in zahlreiche, häufig wenig bekannte Primärtexte und -quellen in verschiedenen Sprachen. Aber er vermag notwendigerweise in vielen Teilen und Bereichen »nur «aus Sekundärquellen zu schöpfen, das heißt aus der vorliegenden, äußerst akribisch aufgearbeiteten Forschungsliteratur (die allenfalls im Bereich der französischsprachigen Forschungsliteratur noch vollständiger hätte sein können), und auf die Hilfestellungen vieler Kolleginnen und Kollegen zu rechnen, denen im Anmerkungsapparat häufig gedankt wird.

Zweitens stellt sich bei der Lektüre der präsentierten Fallstudien, die ebenso faszinierend wie gelegentlich auch geradezu marginal und ausgefallen anmuten, die Frage nach den Bezügen zum »Mainstream« der Kultur-, Sozial - und Ideengeschichte der Frühen Neuzeit und insbesondere auch des Aufklärungszeitalters. In welchen sozial- und kulturgeschichtlichen Bezügen steht beispielsweise die aus heutiger Sicht kurios anmutende Debatte über die Präadamiten (Kap. II) – die Existenz von Menschen vor Adam – zu den »großen« Strömungen und Denkern des ausgehenden 17. Jahrhunderts, zu Pierre Bayle, zu Richard Simon (der in diesem Zusammenhang kurz erwähnt wird), zu Fontenelle, zu Blaise Pascal und zum Jansenismus? Stellt sich die zunächst deutlich religiös begründete Debatte um die »Hottentotten« (Kap. VII) nicht etwas anders dar, wenn man die entsprechenden Artikel aus der »Encyclopédie« von Diderot und D’Alembert, die Berichte aus der »Histoire Générale des Voyages« von Prévost und die auf das Thema bezogenen Passagen aus der »Histoire des deux Indes« (1770/1780) von Raynal (und seinem Co-Autor Diderot) heranzieht? Zweifellos öffnet Mulsows Werk mit großer Intensität den Blick auf die radikale Andersartigkeit der Frühen Neuzeit und ihrer intellektuellen Kultur und rückt auch immer wieder schlaglichtartig die großen Persönlichkeiten der Epoche (wie vor allem Leibniz) in den Blick. Aber könnte die kulturelle »Fremdheit« der Aufklärungsbewegung nicht doch stärker auch in historische Entwicklungslinien und strukturen eingefügt werden, die sich mit Begriffen wie »Entstehung der Moderne«, »Aufklärung«, »Revolutionszeitalter« und »Sattelzeit« verbinden?

Drittens schließlich vermeidet der auf Fallstudien zu Akteuren und ihren Netzwerken (die hier »Konstellationen« genannt werden) fokussierte Ansatz von M. Mulsow nahezu durchgehend Quantifizierungen. Durch sie hätte die Repräsentativität der ausgewählten Fallstudien und/oder der historische Stellenwert der durch sie in den Blick gerückten Ideen, Autoren und Werke belegt oder gestützt werden können: wie zum Beispiel Übersetzungsstatistiken, Auflagenzahlen, Rezeptionsbelege, soziokulturelle Daten zu Autoren und Autorennetzwerken sowie Handelsstatistiken (die lediglich mit Bezug auf Batavia S. 278 kurz erwähnt werden). Das »Denken in Fallstudien« (»Penser par cas«2), das mit der Mikrohistorie und der seit den 1970er-Jahren von Historikern wie Carlo Gínzburg, Robert Darnton, Lynn Hunt und Roger Chartier entwickelten »neuen Kulturgeschichte« einen entscheidenden Auftrieb und eine nachhaltige wissenschaftliche Aufwertung erfahren hat, hat zweifellos die quantitativ-serielle Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung – leider – in den Hintergrund gedrängt. Für die (Weiter-)Entwicklung einer neuen globalen Ideengeschichte, wie sie Martin Mulsow in so inspirierender Weise in dem vorliegenden Werk skizziert und in sehr anschaulichen Fallstudien umrissen hat, erscheint diese Dimension jedoch kaum verzichtbar. M. Mulsow formuliert in seinem Vorwort recht apodiktisch: »Globale Ideengeschichte ist nicht anders als in Fallstudien zu betreiben« (S. 14–15). So anregend und insgesamt überzeugend dieser Ansatz auch sein mag – er sollte andere, nicht autoren- und netzwerkzentrierte sowie auf Quellen und Fragestellungen der quantitativen Sozial- und Kulturgeschichtsschreibung fußende Ansätze nicht ausschließen, sondern dazu anregen, auch sie kreativ und in Anlehnung an viele der im vorliegenden Buch umrissenen Begriffe, Konzepte und Analyseperspektiven weiter zu entwickeln3.

1 Carlo Ginzburg, »Spie. Radici di un paradigma indiziario«, in: Aldo Gargani (Hg.), Crisi della ragione. Nuovo modelli nel rapport tra sapere e attività umane. Torino 1979, S. 57–106. Vgl. auch das Dossier »Sur les traces de Carlo Ginzburg«, in: Critique 769–770 (juin–juillet 2011).
2 Jean-Claude Passeron, Jacques Revel (dir.), Penser par cas. Paris 2020.
3 Vgl. hierzu etwa das auch in Teilen globalgeschichtlich ausgerichtete Werk von Pierre Chaunu.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hans-Jürgen Lüsebrink, Rezension von/compte rendu de: Martin Mulsow, Überreichweiten. Perspektiven einer globalen Ideengeschichte, Berlin (Suhrkamp) 2022, 718 S., ISBN 978-3-518-58793-5, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103670