»Der größte Zürcher, der größte Schweizer […] Lavaters Tod erschüttert ganz Europa«. Mit diesen enthusiastischen Worten ließ sich 1801 Johann Heinrich Bürkli vernehmen, natürlich ein Anhänger des Verstorbenen. Aber wer war dieser Lavater wirklich? Man kennt ihn aus der deutschen Literaturgeschichte (Goethes Würdigung in »Dichtung und Wahrheit«, Herders harsche Absage in Briefen), aber auch in der Religions- und Theologiegeschichte spielt er eine bedeutende Rolle (wie auch immer man diese bewerten mag): als Schüler Spaldings, Mann der Erweckung, Prediger einer christozentrischen Aufklärungsreligion, wenngleich mit einem Hang zur Schwärmerei, zum Spiritismus, zur Proselytenmacherei. Der Titel des gehaltreichen Bandes mit 18 wissenschaftlichen Beiträgen und vielen Illustrationen ist wirklich treffend: »Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts«, ein Mann, über den man tatsächlich überall in Europa sprach, der nachweislich mit mehr als 1890 Menschen korrespondierte (allein in der Zentralbibliothek Zürich haben sich 23 000 Briefe von und an Lavater erhalten), ein Genie der Kommunikation und der Netzwerkbildung. Lavater unterhielt Beziehungen zu Gesprächspartnern verschiedenster Art, weit über die Konfessions- und Nationalgrenzen hinaus. Er schrieb Bücher ohne Zahl (über 400 Veröffentlichungen).
Seine früh schon gedruckten Tagebücher machten Epoche in der Entwicklung der Gattung Tagebuch, als empfindsame Selbstaussage, als introspektives Tagebuch eines religiös bewegten Mannes. Er verschob die Grenzen des öffentlich Sagbaren. Er war – aus religiöser Wurzel – ein Prediger der Individualität und des Genies; durch seine Beziehung etwa zu Goethe erzielte gerade dieser Aspekt (individuum est ineffabile) ungeahnte Wirkung. Sabine Gruber zeigt, dass das Tagebuch eigentlich zur religiösen Erbauungsliteratur gehört und dass Lavater durch zeitliche Raffung und Arrangieren nicht eigentlich Lebensrealität dokumentierte, sondern diese literarisch überformte. Freilich wurde das »Geheime Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst« als authentisch rezipiert und mithin zu einem Modell für spätere Tagebücher.
Lavater trug eine umfangreiche Kunstsammlung zusammen, vor allem Porträts; seine vierbändige Physiognomik beschäftigte alle denkenden Zeitgenossen, wenn sie auch bei Lichtenberg und anderen auf entschiedenen Widerstand traf. Aber auch hier: Das Antlitz des Menschen war für ihn nach dem Antlitz Gottes geschaffen; seine grundlegende Einsicht von der Gottebenbildlichkeit des Menschen motivierte ihn zu eindringenden Forschungen bezüglich der menschlichen Physiognomie. Gerade in dieser Beziehung offenbart sich seine Sonderstellung zwischen orthodoxer Theologie und Aufklärung, sein physikotheologisches Verständnis als Ansatz einer Verwissenschaftlichung der alltäglichen Eindrücke. Heinz Schott analysiert die Physiognomik und arbeitet ihre Differenz zu früheren Versuchen dieser Art (Giovanni della Porta) genauso heraus wie ihre Differenz zur biologischen Physiognomik des 19. Jahrhunderts (Franz Joseph Gall, Cesare Lombroso). Annette Graczyk untersucht die Validität der verschiedenen Klassifizierungsversuche in der Physiognomik und versucht ihre Stufenleiter der Wesen (scala naturae) gegen die spätere Evolutionstheorie abzugrenzen. Sylvaine Hänsel situiert Lavaters Porträtanalysen in der Porträtkunst seiner Zeit und diskutiert dabei Fragen wie Ähnlichkeit, Charakterisierung, Idealisierung, Abgrenzung gegenüber der repräsentativen Staatskunst. Im Ergebnis ist die Differenz entscheidend: Lavaters Menschenanalysen, die vielfach auf Silhouetten beruhten, verfolgten ein grundsätzlich anderes Ziel als die Künstler der Zeit.
Friedemann Stengel definiert Lavaters Stellung innerhalb der Theologie des 18. Jahrhunderts, wobei er insbesondere das Zentraldogma der Unsterblichkeit hervorhebt und die Umformung der reformatorischen Bekenntnisschriften ins Anthropozentrische, Humanistische darstellt. Daniela Kohler untersucht Lavaters religiöse Epik: Seine starke Überzeugung von der Vorbildlichkeit Christi stachelte ihn dazu an, sich biblischer Figuren in immer neuen Anläufen literarisch zu bemächtigen. Karl Baier widmet sich unter dem Stichwort »Anomalistik« all den irritierenden Phänomenen, die einem Aufklärer bei der Auseinandersetzung mit Lavater auch begegnen: Magnetismus, Mesmerismus, Spiritismus, Okkultismus. Das Zeitalter der Aufklärung war fasziniert vom »Geheimnis«, von einer Welt des nicht jedem Zugänglichen. Michael Vesper vertieft diesen Aspekt der Geheimgesellschaften und Verschwörungstheorien anhand der Beziehungen Lavaters zu Johann August Starck. Andere Beziehungsaufsätze betreffen Charles Bonnet, Johann Michael Sailer, Moses Mendelssohn und das Fürstenpaar Franz und Louise von Anhalt-Dessau. Damit sind natürlich nur einige wenige der tausend Beziehungen des Kommunikationsgenies im Mittelpunkt angesprochen, aber doch solche, die verschiedene Aspekte aufschließen.
Wer sich mit dem »bekanntesten Unbekannten des 18. Jahrhunderts« beschäftigt, wird mit einem schier unerschöpflichen Reichtum konfrontiert: Derselbe Mann, über dessen Denk- und Gefühlsoffenheit man sich wundern oder mokieren kann, war auch ein solider Bürger, Familienmensch, Seelsorger und Pädagoge (dazu hier Beiträge von Anett Lütteken und Tilman Hannemann). Mit Recht nennt Bürkli deshalb den Zürcher an erster Stelle seiner Trauerrede, bevor er auf die Schweiz und Europa ausgreift.
Der vorliegende Sammelband eignet sich hervorragend für jeden, der sich mit den vielfältigen Neuansätzen und Neueditionen bekannt machen will, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten ans Licht gekommen sind. Ursula Caflitsch-Schnetzler kann auf ihre dreibändige, im Entstehen begriffene Biografie Lavaters hinweisen (der erste Band ist soeben erschienen). Es wird also nicht dabei bleiben, dass man Lavater als den »bekanntesten Unbekannten« bezeichnen kann. Die schweizerische Zentralfigur der späten Aufklärung ist zu einem inspirierenden und weithin ausstrahlenden Forschungsschwerpunkt geworden, von dessen Ergiebigkeit auch dieser Sammelband im Nachgang der Tagung im Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle zeugt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Maurer, Rezension von/compte rendu de: Christian Soboth, Friedemann Stengel (Hg.), Der bekannteste Unbekannte des 18. Jahrhunderts. Johann Caspar Lavater im Kontext, Göttingen (V&R) 2023, 530 S., 75 Abb. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 68), ISBN 978-3-525-56559-9, EUR 120,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103675