In diesem kleinen Band untersucht die Potsdamer Germanistin Stefanie Stockhorst vier frühneuzeitliche Texte zum Seewesen, die sie als »maritime Handbücher« einordnet. Diese Einordnung ist zwar weit genug, um Salomon Harders »De Navigatione« (1607), Joseph Furttenbachs »Architectura Navalis« (1629), Johann Tangermanns »Wechwyser Tho de Kunst der Seevaert« (1655) und das anonym publizierte »Der geöfnete See=Hafen« (1700‒1705) auf einen Nenner zu bringen. Die Texte könnten allerdings unterschiedlicher kaum sein. In konzisen Fallstudien legt Stockhorst dar, was sich dahinter verbirgt, wer dadurch angesprochen werden sollte und welche »Verschriftlichungsstrategien« damit verbunden waren.
Die letzteren, das sei hier vorweggenommen, sind Stockhorst zufolge »Funktionen der strategischen Kommunikation … durch feine Manöver zwischen Mitteilen und Verschweigen von Informationen, durch Selbststilisierungen, durch explizite bzw. implizite Nutzenverheißungen oder durch ein kontextualisierendes ›framing‹« (S. 8‒9). Solche Strategien sucht sie an einem Wendepunkt in der Vermittlung von Wissen, das bis dato meist von maritimen Praktikern mündlich tradiert, nun jedoch verschriftlicht wurde. Dabei galt es, vermeintlich entlegene Inhalte für ein fachfremdes Publikum zu übersetzen, denn die Zielgruppe dieser volkssprachlichen Texte war gemischt. Dementsprechend, so argumentiert Stockhorst, unterlag die Verschriftlichung in den einzelnen Texten einem je eigenen »Kalkül« (S. 9‒10).
So war Harders »De Navigatione« als erbauliche Begleitlektüre für die (protestantisch-)christliche Seefahrt gedacht und orientierte sich an den Bedürfnissen Schiffsgeistlicher und frommer Seeleute – ein »literarisches Bordgepäck« (S. 40) zur Stärkung des Glaubens und zur Hebung der »Arbeitsmoral« (S. 41). Wie stark diese Bedürfnisse waren, das belegen auch andere zeitgenössische Werke, die Stockhorst am Ende des Kapitels auflistet (ihre Untersuchung ist eine Fundgrube für Quellen). Der enge Nexus zwischen Seefahrt und Glauben, den sie hier betont, ist übrigens zu dieser Zeit selbst ausgesprochen technischen Publikationen zu eigen. So enthält beispielsweise auch Johan Månssons vielfach aufgelegtes »Seebuch« (1644), eigentlich ein Hafenhandbuch für den Ostseeraum, u. a. Gebete für alle Lebenslagen, vom Fahrtantritt bis zum Schiffbruch1.
Anders als Harders handliches Büchlein war die »Architectura Navalis« des süddeutschen Baumeisters Furttenbach nicht zum Mitnehmen auf See gedacht. Es geht darin vielmehr um technische Aspekte und um eine durchaus politisch konnotierte »Theatralik des Maritimen« (S. 54). Furttenbachs geometrisch konstruierte Risse zeigen einerseits »Ordnung, Schönheit und Sicherheit« (S. 55), die Stockhorst als Reaktion auf zeittypische Krisenerfahrungen deutet; sie lassen dabei an repräsentative Palastbauten denken. Andererseits geht es um Wehrhaftigkeit; dazu greift Furttenbach auf sein Wissen aus dem Festungsbau zurück und beschwört die »Türkengefahr«.
Johann Tangermanns Kompendium für Steuerleute wiederum ist ein seltenes Beispiel in niederdeutscher Sprache verfasster Fachbücher. Nautische Terminologie, etwa zur Bestimmung des Sonnenstands (»Schießen«) wird in dieser Fallstudie zwar gut verständlich erklärt; Tangermanns Gegenstand war aber recht speziell, und die Verwendung des Dialekts ist wohl eher der geografischen Herkunft der Nautiker geschuldet als dem Ziel, ein breites Publikum zu erreichen. So sind es denn auch die absichtlich vorenthaltenen Informationen, die dieses Werk am besten charakterisieren und nach Stockhorst von einer Art »Wissensmanagement« zeugen, das fachkundigen Praktikern eben doch ein gewisses Spezialwissen vorbehalten sollte.
Der vierte Text ist eine Art illustrierter Fremdenführer für See-Unkundige, die beispielsweise einen Hafen besichtigen wollten. In einer »popularisierenden Verschriftlichungsstrategie« (S. 93) sieht Stockhorst die Stoßrichtung des »Geöfneten See=Hafens«, der Teil einer neuartigen Serie ähnlicher Schriften war und von den ausgewählten Beispielen vielleicht am entschiedensten auf ein bürgerliches Publikum zielte. An seinen Erfolg versuchte u. a. eine minderwertigere und vor allem profitorientierte Fortsetzung anzuknüpfen, hinter der Stockhorst einen »Trittbrettfahrer« (S. 106) vermutet.
In allen vier Beispielen spielen Gattungskonventionen (beispielsweise der Erbauungsliteratur bei Harder oder der Ratgeberliteratur beim »Geöfneten See=Hafen«) eine gewisse Rolle, werden jedoch ganz unterschiedlich genutzt. In Stockhorsts Lesart handelt es sich dabei um einen »Balanceakt zwischen Zeigen und Verbergen« (S. 116), der von je spezifischen Interessen geleitet wurde.
Alle Beispiele bestärken zudem einen Befund, der in der Forschung gerade Konturen annimmt: Die Frühe Neuzeit war eine, wenn nicht gar die maritime Epoche schlechthin. Das zeigt sich in der ökonomischen Bedeutung der Seefahrt für die frühe Globalisierung, in der rasanten Verdichtung transozeanischer Beziehungen oder auch in dem wachsenden Interesse von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen am Seewesen. Zumindest erklärt sich so die bemerkenswerte Entschlossenheit, selbst in küstenfernen Regionen maritimes Spezialwissen zu erwerben. Manches, etwa die Anweisungen zur Positionsbestimmung auf See, erschließt sich heute dennoch nicht ohne Weiteres, und auch Stockhorst – darauf lässt die Danksagung schließen – hat offenbar fachkundigen Rat maritimer Praktiker zu Hilfe genommen. In überzeugender Weise gelingt es indessen, mit dem Konzept der »Verschriftlichungsstrategien« einen Zugang zu diesen teils anspruchsvollen und in der Forschung noch zu wenig beachteten Texten zu finden.
Das Konzept wurde offenbar nicht eigens für die Analyse maritimer Handbücher entwickelt. Vielmehr dienen diese hier als Exempel und Materialbasis, um dessen Tauglichkeit zu erproben. Wenn solche Strategien aber in maritimen Handbüchern ebenso zum Einsatz kamen wie in der Reitliteratur, war dann jedes Spezialgebiet, das irgendwann einmal außerhalb seines angestammten Milieus (also etwa unter Adeligen oder maritimen Praktikern) rezipiert wurde, mit einem solchen textstrategischen Kalkül verbunden? Die Serie, zu der der »Geöfnete See=Hafen« gehört, widmete sich einer breiten Palette traditionell vor allem für Adelige relevanter und im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend popularisierter Themen (Festungswesen, Jagd, Münzen und Medaillen). Aber darin erschöpft sich die Vielfalt der frühneuzeitlichen Leseinteressen nicht. Wie steht es beispielsweise um die Kulinarik, die in der Frühen Neuzeit ebenfalls zunächst an den Höfen kultiviert wurde, dann aber auch die Neugier eines diversen Publikums – darunter auch die von Frauen – weckte? Falls die Vermutung zutreffen sollte, »Verschriftlichungsstrategien« könnten in der Frühen Neuzeit bei der Verbreitung ursprünglich auf kleine Gruppen limitierten Wissens eine zentrale Rolle gespielt haben – was würde dann daraus folgen? Diese Fragen laden dazu ein, weitere Spezialgebiete mithilfe dieses Konzepts unter die Lupe zu nehmen und auch jenseits der literaturwissenschaftlichen Perspektive nach Mechanismen von Popularisierung und Rezeption zu fragen.
Der kleine Band sei all jenen empfohlen, die solche Mechanismen faszinieren oder die im Zeichen der »Blue Humanities«, auf die sich auch Stockhorst bezieht, soziale und kulturelle Dimensionen des Meeres in der Frühen Neuzeit erforschen – vergnüglich zu lesen ist er allemal.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sünne Juterczenka, Rezension von/compte rendu de: Stefanie Stockhorst, Verschriftlichungsstrategien. Maritime Handbücher der Frühen Neuzeit zwischen Wissenspolitik und kultureller Inszenierung, Hannover (Wehrhahn Verlag) 2022, 128 S., 8 Abb. (Neue Perspektiven der Frühneuzeitforschung, 6), ISBN 978-3-86525-932-5, EUR 12,00., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103677