Die Straße ist politisch: Als Charles Le Brun, seines Zeichens premier peintre du roi, in den 1660er-Jahren die Verdienste Ludwigs XIV. um die öffentliche Ordnung von Paris ins Bild setzt, arbeitet er sorgfältig einen Abschnitt Kopfsteinpflaster heraus. Er verweist damit auf die Sicherheit und Sauberkeit, die in jenen Jahren dank Seiner Majestät in der französischen Hauptstadt Einzug gehalten hätten. Die Straße ist politisch: Das ist auch, auf wenige Worte reduziert, die Quintessenz aus einem über 500 Seiten starken Buch, in dessen Zentrum die Straße als Ort der Herrschaftsausübung und Herrschaftsaushandlung steht. Neben diesem roten durchziehen zugleich aber auch andersfarbige Fäden die fünf Hauptkapitel des Bandes. Indem sie sich hier kreuzen und dort verflechten, fügen sich all diese Fäden zu einem mal lockeren, mal dichten polychromen Gewebe, das vielfältige Anknüpfungspunkte bietet. Zumal die »Histoire de la rue« ein schier unerschöpfliches Reservoir an interessanten Beobachtungen bereithält: Wir erfahren darin beispielsweise, dass lange bevor der Vesuv die Stadt in glühende Lava tauchte, in Pompeji Straßen erneuert und Abwasserkanäle angelegt wurden. Wir lernen, dass es in mittelalterlichen Städten aufgrund der dort damals noch üblichen Präsenz von Tieren wiederholt zu Unfällen kam und dass die beteiligten Tiere dafür ebenso belangt wurden wie die gleichfalls involvierten Menschen. Und wir gewinnen einen Eindruck von der Persistenz von Krisendiskursen, wenn wir lesen, dass Jacques Chirac in seiner Funktion als Premierminister bereits Mitte der 1970er‑Jahre die Verkehrssituation in Paris als einen »cycle infernal de l’autodestruction de la ville par l’automobile« charakterisierte (S. 419).

Indem sie die »Histoire de la rue« als eine Art histoire totale schreiben und dabei zugleich einen Zeitraum von zwei Jahrtausenden in den Blick nehmen, gehen die Verfasserinnen und Verfasser um die Herausgeberin Danielle Tartakowsky durchaus ein gewisses Risiko ein. Denn eine solchermaßen angelegte Studie muss – erstens – zwangsläufig selektieren und priorisieren. Sie öffnet damit unweigerlich eine Flanke, in die manche Fachkollegin bzw. mancher Fachkollege erfahrungsgemäß nur allzu gern hineinstößt. Die »Histoire de la rue« stellt – zweitens – aber auch deshalb ein Wagnis dar, weil sie das erste Buch dieser Art in Frankreich ist. Freilich betraten die Autorinnen und Autoren thematisch und methodisch trotzdem kein völliges Neuland. Schließlich ist das Phänomen der Straße in den vergangenen Jahrzehnten auch von der französischen Historiografie immer wieder einmal aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandelt worden1. Eine handbuchartige Synthese vorzulegen, die den Versuch unternimmt, das Thema sowohl in seiner zeitlichen Tiefe als auch in seiner sachlichen Breite angemessen zu (re-)präsentieren, stellt aber gleichwohl ein Novum dar. Für die Bereitschaft als solche, dieses Projekt in Angriff genommen zu haben, gebührt den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – neben der Zeithistorikerin Tartakowsky sind dies die Althistorikerin Catherine Saliou, die Mediävistin Claude Gauvard, der Frühneuzeitler Joël Cornette und der Zeithistoriker Emmanuel Fureix – Anerkennung. Die Art und Weise, wie dieses Quintett die anvisierte Gesamtgeschichte der Straße umgesetzt hat, nötigt Respekt ab. Hieran vermag auch der Umstand nur wenig zu ändern, dass das Buch in den dem Mittelalter und der Neuzeit gewidmeten Kapiteln wesentlich auf die Verhältnisse in Frankreich fokussiert. Zumal diese Entscheidung den Verfasserinnen und Verfassern an anderer Stelle erlaubt, die enorme Vielfalt der gesellschaftlichen Realitäten angemessen abzubilden, die seit dem Altertum mit dem Phänomen der Straße verbunden waren und sind.

In der adäquaten Wiedergabe dieser Vielfalt sehen die Autorinnen und Autoren offenbar die zentrale Herausforderung, aber auch die große Chance ihres Buches. Deutlich wird dies bereits in dem ersten großen Kapitel des Bandes, das der Straße in der römischen Kaiserzeit gilt. Hier schreibt Saliou nämlich: »La rue est un objet d’histoire multiple. Dans sa matérialité, elle relève à la fois de l’archéologie, de l’histoire des techniques, de celle des formes architecturales, c’est-à-dire de l’histoire de l’art, mais aussi de l’histoire économique, institutionnelle, et politique [...]« (S. 106). Mit anderen Worten: Die mannigfaltigen Formen und Funktionen der Straße in der Geschichte bedürfen auch entsprechend vielfältiger Zugänge und Zugriffe von Seiten der historisch orientierten wissenschaftlichen Disziplinen, um angemessen erfasst, beschrieben und analysiert werden zu können. Diese Einsicht versuchen die unterschiedlichen Kapitel des Buches umzusetzen. Der Fokus liegt dabei auf den sozialen Praktiken und Prozessen, die wiederum zur Voraussetzung hatten, dass die Straße für unterschiedliche historische Akteurinnen und Akteure ein bevorzugtes Objekt der Aneignung darstellte. Ja, die Straße konstituierte sich im Grunde erst durch die spezifischen Funktionen und Nutzungen, die an sie herangetragen wurden. Dass unterschiedliche Funktionen und Nutzungen im Zuge dessen zeitgleich nebeneinander bestanden, zeigen bildliche Darstellungen aus dem Mittelalter. »[...] la rue est avant tout, à ce moment donné de l’histoire, et pour longtemps – environ huit siècles –, un lieu de vie intense, foisonnante, façonné par une société dont les valeurs sont différentes des nôtres […]«, schreiben Gauvard und Cornette (S. 110).

Die etwa acht Jahrhunderte, von denen sie hier sprechen, korrespondieren im Denken von Gauvard und Cornette mit dem »long Moyen Âge de la rue« (S. 109). Die beiden Historiker postulieren für die Geschichte der Straße mithin also ein von der Allgemeingeschichte abweichendes Periodisierungsschema. Dass sie dieses Postulat allerdings nicht aus der Geschichte der Straße, sondern vielmehr aus der Geschichte der Städte heraus begründen, vermag nicht abschließend zu überzeugen. Es legt unabhängig von der konkreten Periodisierungsfrage allerdings noch eine umfassendere Problematik offen, die die »Histoire de la rue« als Ganzes betrifft: Das Buch kommt – beginnend mit der römischen Kaiserzeit – allzu urban daher. Freilich dürfte dies in erster Linie auf die Quellen und die Forschungsliteratur zurückzuführen sein, auf die die Verfasserinnen und Verfasser sich stützen. Die beeindruckende Syntheseleistung, die hinter der »Histoire de la rue« steht, wird durch die erwähnte Unausgewogenheit jedenfalls nicht geschmälert. Teil dieser Syntheseleistung ist auch die beachtliche Zahl an Abbildungen, die den Text sinnvoll ergänzen. Dass die bemerkenswerte Malerei von Charles Le Brun es nicht in den Band geschafft hat, wiewohl dieser die Bemühungen um die Straßenreinigung in Paris durchaus thematisiert, erscheint ebenfalls verschmerzbar. Wer mag, kann das Gemälde im Spiegelsaal von Versailles in Augenschein nehmen, wo es die prachtvoll gestaltete Decke ziert. Weniger prachtvoll, aber schneller verfügbar ist das Werk zudem im digitalen catalogue iconographique des Schlosses von Versailles2.

1 Vgl. hierzu die entsprechenden Titel im übrigens auch sonst sehr instruktiven bibliografischen Anhang des Bandes (S. 493–501).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Thorsten Busch, Rezension von/compte rendu de: Danielle Tartakowsky (dir.), Histoire de la rue. De l’antiquité à nos jours, Paris (Tallandier) 2022, 524 p., ill. en n/b et en coul., cartes, ISBN 979-10-210-4115-8, EUR 34,90., in: Francia-Recensio 2024/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103678