»Kunst, Konflikt, Kollaboration – Hildebrand Gurlitt und die Moderne« wurde als gewichtiger Begleitband zur Ausstellung »Bestandsaufnahme Gurlitt »Entartete Kunst« – Beschlagnahmt und verkauft« von Nikola Doll, zuvor Kuratorin und Sammlungsleiterin am Kunstmuseum Bern, Uwe Fleckner, Universität Hamburg, und Gesa Jeuthe Vietzen, Beratende Kommission NS-Raubgut, Berlin, konzipiert und herausgegeben, und erschien 2023 bei De Gruyter als Band 14 der Reihe »Schriften der Forschungsstelle ›Entartete Kunst‹«. Bei den elf Autorinnen und Autoren handelt es sich um ausgewiesene Expertinnen und Experten für die Geschichte der »Entarteten Kunst« sowie für die drei Zeitabschnitte, die den Katalog gliedern: 1930–1937 Moderne, 1937–1941 Beschlagnahme und »Verwertung«, sowie 1945–1950 und folgende »Rehabilitierung« und Rezeption.

Der Sammelband richtet sich an ein breites Publikum und ist reich bebildert. Er enthält neben einem kurzen Überblick zur Forschung über »Entartete Kunst« seit 1945 vor allem präzise Beiträge zur facettenreichen Person Hildebrand Gurlitts (1895–1956). Die Figur Gurlitt wird wissenschaftlich fundiert und differenziert im Spannungsfeld von »Nutznießer des Nationalsozialismus« (S. 11) und »Opfer als jüdischer Mischling 2. Grades« (S. 11) interpretiert. Als Untersuchungsgegenstand dienten den Autorinnen und Autoren die fast 400 Werke des Konvoluts »Entartete Kunst« aus dem sogenannten Kunstfund Gurlitt, die sich heute als Schenkung seines Sohnes Cornelius Gurlitt (1932–2014) im Kunstmuseum Bern befinden. Das Buch ist klar strukturiert und die Texte sind gut recherchiert.

Hildebrand Gurlitts verschiedene Wirkungskreise als Direktor eines Kunstmuseums in Zwickau, Berater und Sammler moderner Kunst, als einer der vier Kunsthändler der »Verwertungsaktion« beschlagnahmter »entarteter« Kunst und dann im Umfeld des »Sonderauftrags Linz«, schließlich seine Tätigkeiten nach 1945 werden von einem Beitrag zum nächsten problematisiert und vor der jeweiligen Zeitfolie kontextualisiert.

Das Buch versucht, den Anspruch unabhängiger Forschung an einem Privatmuseum, dem Kunstmuseum Bern, einzulösen. Gleichzeitig stellen sich die Autoren und Autorinnen erfolgreich der Herausforderung, sich Hildebrand Gurlitts wechselhafte Auseinandersetzung mit der modernen Kunst anzunähern und in ihrer Widersprüchlichkeit zu präsentieren. Wenn der Blick der Lesenden zunächst auf viel bereits Bekanntes stößt, so erschließen sich neue Erkenntnisse im Detail. Jedes Kapitel präsentiert eine kurze Einführung zum jeweiligen Zeitrahmen. Sie wird dokumentiert mit neu erschlossenen Quellen aus Museumsarchiven oder aus dem Nachlass Gurlitts, der vom Bundesarchiv in Koblenz digitalisiert worden ist. Einige der Quellen, die zuvor in den Berichten der Taskforce Gurlitt aus rechtlichen Gründen nicht in der Datenbank »Proveana« online publiziert werden konnten, illustrieren nun das Buch.

Nicht ganz verständlich ist, warum die Darstellung zur Rezeption der Klassischen Moderne mit dem Tod Gurlitts abschließt. Weil er als der Profi gilt (ebenso professionell wie profitierend), während das Verhältnis seiner Frau Helene, seiner Tochter Benita und des Sohns Cornelius zur Moderne nur indirekt war und sie nicht öffentlich auftraten? Interessant ist der Beitrag der Kölner Kollegen Britta Olényi von Husen und Marcus Leifeld, die den Impressionismus als Teil der Moderne präsentieren, doch stellt sich die Frage nach den vielen anderen Museen, die schon vor dem Skandal Werke aus den Händen Gurlitts im Tausch, als Schenkung oder im Ankauf erhielten. Es erstaunt, dass die Forschungsstelle »entartete Kunst« der Freien Universität Berlin an dem Buchprojekt nicht involviert zu sein scheint, obwohl die Recherchen sich offensichtlich überschneiden, bzw. die Beiträge auf den Forschungsergebnissen der Berliner Forschungsstelle aufbauen.

Der Titel mit seinen 3 »K« ist so gewichtig, wie das Werk selbst. Der Bildteil ist mit qualitativ hochwertigen Abbildungen als Katalog angelegt, allerdings sind die Bildbeschreibung und Angaben zur Provenienz davon getrennt. Pro Abbildung finden sich weder die Inventarnummern, die zur Gurlitt Datenbank des Kunstmuseums Bern führen würden, noch die sogenannte EK Nummer, die seit 2003 zur Datenbank EK »Entartete Kunst« der FU Berlin leiten könnte. Zwar ist so das ästhetische Vergnügen beim Betrachten der Bilder gewährleistet, denn die Abbildungen füllen einseitig die Hälfte einer Seite, aber mühsames Blättern wird nötig, um die jeweiligen Besitzer vor der Beschlagnahme zu kennen, wie sie in der Datenbank EK (»Entartete Kunst«) bereits vor 2018 erfasst wurden.

Ein Abkürzungsverzeichnis könnte dem interessierten Laien das Lesen ebenfalls erleichtern, auch wäre neben dem Personenregister, ein Schlagwortregister wünschenswert gewesen.

Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen: Hildebrand Gurlitt blieb sich und der konservativen Einstellung seines Vaters, des Kunsthistorikers Cornelius Gurlitt (1850–1938) treu, es bedurfte dazu nicht des Journalisten Paul Fechter (1880–1958). Er blieb sich auch treu in der Wertschätzung einiger Künstler der Moderne, vor allem aber auch bei der Beobachtung des Marktes. Sein kommerzielles Verhältnis zur Kunst entdeckte Gurlitt nicht erst 1933, sondern bereits als Berater von Privatsammlern in Dresden. Ein Desiderat bleibt die Vertiefung einiger Forschungsfelder zu Gurlitt und der Moderne, die mit dem Bestand im Kunstmuseum Bern verknüpft werden könnten: z. B. sein Verhältnis zu Erhard Göpel (1906–1966) und dessen Interesse an der Vermarktung der »Moderne« während und nach dem Nationalsozialismus, sowie die Frage, wie beide sich gegenseitig Kunstwerke über eine Galerie zuspielten, um Rechnungen zu generieren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Nathalie Neumann, Rezension von/compte rendu de: Nikola Doll, Uwe Fleckner, Gesa Jeuthe Vietzen (Hg.), Kunst, Konflikt, Kollaboration. Hildebrand Gurlitt und die Moderne, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2022, 480 S., 130 Abb. (Schriften der Forschungsstelle »Entartete Kunst«, 14), ISBN 978-3-11-079974-3, EUR 54,00., in: Francia-Recensio 2024/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103866