Dieses Buch basiert auf Gundula Gahlens Habilitationsschrift an der Freien Universität Berlin. Entsprechend gewichtig kommt der Band mit seinen weit über 800 Seiten daher. Zu Beginn definiert die Autorin das Forschungsdefizit, das sie mit dieser Studie abdecken will: Arbeiten zu Kriegsversehrten gibt es schon viele, auch und gerade zu den »Kriegszitterern« des Ersten Weltkrieges, und natürlich gibt es auch schon viele Arbeiten zum Offizierkorps in diesem Konflikt. Nur Arbeiten zur psychischen Erkrankung speziell der Offiziere gibt es bisher nicht, und genau da setzt sie an.

Es geht ihr um das Offiziersbild der Gesellschaft des Kaiserreichs, um Männlichkeit und um Führereigenschaften. Offizieren, die psychische Ausfälle hatten, wurde dann auch zumeist von den Militärpsychologen »Neurasthenie« attestiert, eine Krankheit, für die man nichts konnte und die kein moralisches Versagen implizierte – vergleichbar einer Grippe etwa. Mannschaftsdienstgraden dagegen wurde zumeist eine »Hysterie« bescheinigt – Gahlen, die auch aus der Gendergeschichte kommt, weist darauf hin, dass darin das Wort »hyster«, griechisch für Uterus, enthalten sei; »Hysterie« wurde als weiblich und moralisch verwerflich konnotierte Charakterschwäche gesehen.

Gahlens Buch ist klar strukturiert und in ihrem Methodenkapitel (Kapitel I) begründet sie diese Struktur auch überzeugend: Kapitel II diskutiert die Nervenstärke der Offiziere als Teil ihres Habitus, die psychischen Voraussetzungen für den Offiziersberuf und die psychologische Betreuung der Offiziere und Mannschaften im Krieg. Offiziere, die »Nerven gezeigt« hatten, wurden dann zumeist nicht in eine Anstalt gebracht, sondern irgendwo frontfern verwendet oder mit dem »einfachen Abschied« ins Zivilleben zurückgeschickt. Es durfte eben nicht sein, dass ein »Herr«, ein Offizier des Kaiserreichs, versagt hatte. Wo man einem Mannschaftsdienstgrad »Drückebergerei« unterstellte, ermöglichte die militärische Führung einem Offizier einen längeren Lazarettaufenthalt und, wenn nötig, anschließend eine Verwendung in der Heimat – es sei denn, er hatte bei der Führung der Truppe im Gefecht versagt; dann traf auch Offiziere die gesellschaftliche Ächtung, ein Ehrengerichtsverfahren oder die subtile Aufforderung, den Dienst zu quittieren. Nur hatte das deutsche Heer in den ersten Kriegsmonaten bereits so hohe Offiziersverluste erlitten, dass eine allzu harte Behandlung der psychisch Erkrankten sich schon aus Bedarfsgründen verbot.

In Kapitel III geht es dann speziell um die psychiatrische Behandlung der Offiziere. Manchen Leser wird es erstaunen, dass es bereits im Ersten Weltkrieg eine Vielzahl offiziell anerkannter Psychologen und Psychiater gab, die den nervlich geschädigten Militärs halfen, wobei Hilfe auch bedeutete, sie wieder einsatzfähig zu machen. Der spätere Doyen der deutschen Psychiatrie, Karl Bonhoeffer, ist mit immerhin fünfzehn Einträgen im Register vertreten. Allerdings gab es während der ersten zwei Jahre des Krieges keinen systematischen Austausch zwischen den Fachärzten, sodass in den Therapieformen, aber auch in der differenzierten Behandlung von Offizieren gegenüber Mannschaften, einige Ärzte anders verfuhren als das Gros ihrer Kollegen. Auch die »Kriegstagung« der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte und des Deutschen Vereins für Psychiatrie 1916 in München führte zwar zu einem fachlichen Austausch, beeinflusste (so Gahlen) die Praxis jedoch kaum.

Ihren Forschungsergebnissen zur Haltung des Militärs und zu jener der psychiatrischen und psychologischen Fachwelt stellt Gahlen im Kapitel IV die Selbstwahrnehmung der betroffenen Offiziere gegenüber. Naturgemäß war auch diese geprägt von ihrem Rollenverständnis als Offizier im Kaiserreich. Gahlen arbeitet heraus, dass neben die Sorge wegen der eigentlichen Krankheit und angesichts einer eher fraglichen Gesundung auch die Frage trat, ob man in der Aufgabe als militärischer Führer versagt hatte, und ob die psychische Verwundung sich auf das Selbstbild als Mann auswirkte.

In ihrem fünften und letzten Hauptkapitel schildert Gahlen, wie psychisch versehrte Offiziere in der Weimarer Republik und im NS-Staat behandelt wurden. Viele Offiziersfamilien hatten ihrem leidenden Sohn aus ihrem Vermögen eine gute Behandlung sichern können, bis die Hyperinflation dieses Vermögen vernichtete. Auch die Vorzugsbehandlung der Offiziere gegenüber den Unteroffizieren und Mannschaften fiel in der Weimarer Zeit bald weg, sodass manchen der soziale Abstieg bis hin zum Bettler drohte.

Das Spannende an ihren Befunden für die Geschichte des »Dritten Reiches« ist, dass Gahlen zeigen kann, wie die sozial herausgehobene Rolle des Offiziers nach 1933 zunehmend eingeebnet wurde; die »Elitenmanipulation«, die Reinhard Stumpf in seinem Buch über die Wehrmachtelite auf 1942 datiert, hatte hier schon erste Vorläufer. Letztlich fielen auch einige kriegsversehrte Offiziere, vor allem solche jüdischer Herkunft, in psychiatrischen Kliniken nach 1941 der Euthanasie des Unternehmens »T 4« zum Opfer – dass sie ihre psychischen Schäden im Dienst am Vaterland erlitten hatten, wurde kurzerhand verneint und ihre Erkrankung als erblich bedingt umdefiniert.

Was die Benutzung dieses Kompendiums ungemein erleichtert, ist, dass Gahlen am Ende aller größeren Abschnitte oder Kapitel eine Zwischenbilanz zieht. Wer nur zu Teilthemen etwas wissen will, kann so mit Inhaltsverzeichnis und Register durch die fast 900 Seiten navigieren und sich über den Inhalt der überlesenen Kapitel auf die Schnelle informieren.

Gahlen hat wohl umfassend die wenigen erhaltenen Quellen aufgespürt (der Verlust des preußischen Heeresarchivs 1945 erklärt, warum viele ihrer Beispiele aus dem bayerischen, sächsischen oder württembergischen Heer stammen); insbesondere macht sie reichlich Gebrauch von den im Berliner Krankenbuchlager erhaltenen Akten. Es dürfte wohl so schnell niemand versuchen, über das hier erreichte Erkenntnisniveau in diesem Nischenthema hinauszugehen. Für seinen Gegenstand wird Gahlens Buch auf unabsehbare Zeit ein Standardwerk bleiben.

FUSSNOTEN

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Winfried Heinemann, Rezension von/compte rendu de: Gundula Gahlen, Nerven, Krieg und militärische Führung. Psychisch erkrankte Offiziere in Deutschland (1890–1939), Frankfurt a. M. (Campus Verlag) 2022, 852 S. (Krieg und Konflikt), ISBN 978-3-593-51495-6, EUR 64,00., in: Francia-Recensio 2024/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103872