In einem Interview vom September 2016 bemängelte die damalige Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD), Frauke Petry, dass der Begriff »völkisch« meist negativ konnotiert sei. Das wollte sie ändern. Frau Petry verließ zwar schon ein Jahr später die AfD – aber ihr Vorschlag fiel zumindest in rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Kreisen auf fruchtbaren Boden: Völkisches Vokabular ist dort mittlerweile »in aller Munde«, und dass der Begriff durch den Nationalsozialismus kontaminiert ist, stört niemanden. Auch wenn die Nationalsozialisten völkisches Sprechen und Denken nicht »erfanden« – um eine »Indienstnahme« (S. 2) handelte es sich allemal. »Völkisch«, so drückte es ein SS‑Schulungsleiter aus, hieß, dass »die Rassenfrage der Schlüssel zur Weltgeschichte« sei, »Volkstum in erster Linie rassisch bedingt« und Kultur »Folge und Ausdruck der Eigenschaften eines bestimmten Volkstums« sei (S. 1). Wie konnte dieses Denken allmählich die Oberhand gewinnen?

Die Beiträge des Bandes identifizieren zunächst Vorläufer völkischen Denkens, untersuchen anschließend den Volkstums- und Rassenbegriff der Nationalsozialisten und fragen abschließend, wie nach 1945 versucht wurde, die vergiftete Ideologie aus den Köpfen der Deutschen zu bekommen. Die sechs Aufsätze des ersten Teils kreisen um die Frankfurter Paulskirche – insofern etwas überraschend, als die Revolution von 1848/49 gemeinhin als positiver deutscher Erinnerungsort dient, »von dem aus sich die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik herleiten lässt« (S. 2). Frank Lorenz Müller lenkt den Blick darauf, dass sich die Revolutionäre durchaus an »damals gängigen und von Zeitgenossen als vorbildhaft verstandenen Mustern moderner westlicher Politikmodelle orientiert« hätten, allerdings an solchen, die »aus heutiger Sicht eher anrüchig« erscheinen, nämlich »Imperialismus, Kolonialismus und Flottenpolitik« (S. 30).

Mit der Entwicklung der Konzepte »Volk« und »Nation« von der Paulskirche bis zur Weimarer Republik setzt sich Ubaldo Villani‑Lubelli auseinander; beide Begriffe seien in der Verfassung übrigens »nicht eindeutig verwendet« worden, aber »Volk« tauche in unterschiedlichen Verbindungen im Text immerhin siebenunddreißig Mal auf, »Nation« dagegen nur einmal als »Nationalversammlung« (S. 44). Sebastian Rosenberger setzt sich mit Inklusions- und Exklusionsmustern und der Haltung gegenüber der slawischen Bevölkerung in den östlichen Gebieten des Deutschen Bundes auseinander. Die übrigen Beiträge des ersten Teils widmen sich der Paulskirche als Ausgangspunkt für demokratische, aber auch für kriegerische »Staatserzählungen«, der Bedeutung großdeutscher Vorstellungen anlässlich des Jubiläums von 1948 sowie Presse und Sprache im Kontext der Paulskirchenversammlung.

Die zwölf Aufsätze des zweiten Teils konzentrieren sich auf die völkischen Ursprünge nationalsozialistischer Ideologie, mit recht unterschiedlichen methodischen und thematischen Zugriffen. Tobias Hirschmüller befasst sich mit der Revolution von 1848/1849 in völkischen Geschichtsbildern zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Christine Absmeier zeigt anhand des »Vereins für das Deutschtum im Ausland«, wie sich völkisches Gedankengut ausbreitete, und Sebastian Balling zeichnet die Entstehungs- und Transformationsgeschichte des Ideologems vom »jüdischen Bolschewismus« von seinen völkischen Wurzeln in Bayern bis zu seiner »Verwendung als Rechtfertigungsmotiv nationalsozialistischer Gewalt im Rahmen des Vernichtungskriegs in der Sowjetunion und des Holocausts« (S. 141) nach. Weitere Themen sind die Entwicklung einer völkischen Geografie (Petra Svatek), die Probleme bei der statistischen Erfassung von Volk, Nation und »Rasse« (Philipp Kröger), Konzeptionen, Akteure und Konjunkturen eines »völkischen Wirtschaftsnationalismus« in der Zwischenkriegszeit (Bernd Robionek), die Bedeutung des Blutbegriffs in der politischen Publizistik Ernst Jüngers (Sebastian Rosenberger) und die auf völkischen Grundsätzen basierenden Aktivitäten der in Dresden residierenden »Deutschen Kunstgesellschaft« (Sven Brajer). Unbedingt erwähnenswert ist schließlich auch Lena Heerdmanns Studie über das Fach »Heimatkunde« und die besondere Rolle »heimatforschender« Volksschullehrerinnen und -lehrer bei der Verbreitung und Festigung völkischer Ideologien. In den sechs Beiträgen des dritten Teils geht es um die Bemühungen der mit »Re-education« und »Reorientation« befassten Institutionen und Personen, die Deutschen zu entnazifizieren und zu demokratisieren.

Auch wenn manche Beiträge eine präzise Fokussierung auf das völkische Denken als Thema des Sammelbandes vermissen lassen, so sind doch alle höchst informativ und anregend. Einige, etwa der über die deutschtümelnde Dresdner Kunstgesellschaft, sind sogar von bestürzender Aktualität, weil sie zeigen, wie die Grenzen des Sagbaren allmählich verschoben wurden und das, was zuvor »unsagbar« war, nach und nach in gebildete Kreise und von dort hinab in die breite Masse diffundierte. Wie das funktionierte, zeigen die Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien wie Netzwerkanalyse, biografischen und ideologiegeschichtlichen Zugriffen sowie originellen Untersuchungsgegenständen. Eine wirklich bereichernde und lohnenswerte Lektüre!

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Julien Reitzenstein, Dirk Rupnow, Bernd-A. Rusinek (Hg.), Völkisches Denken 1848 bis 1948. Von der Paulskirche über Weimar zum Petersberg, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2023, 378 S. (Politik – Ideologie – Wissenschaft, 1), ISBN 978-3-11-069734-6, EUR 89,95., in: Francia-Recensio 2024/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103882