Im Mai 2018 war es endlich so weit: Die Evangelische Akademie der Pfalz unter der Leitung ihres Direktors, Christoph Picker, in Verbindung mit dem Leibniz-Institut für europäische Geschichte, gab ein auf drei Jahre befristetes Forschungsprojekt zu dem früheren pfälzischen Präses und Kirchenpräsidenten Hans Stempel (1894–1970) in Auftrag. Stempel hatte sich bald nach dem Krieg über 20 Jahre lang, bis zu seinem Tode, für deutsche Kriegsgefangene eingesetzt, die in westeuropäischen Militärgefängnissen einsaßen: unter ihnen schwerstbelastete NS-Täter wie der Höhere SS- und Polizeiführer Carl-Albrecht Oberg (1897–1965) oder der Befehlshaber der Sicherheitspolizei für das besetzte Frankreich, Helmut Knochen (1910–2003), die beide an exponierter Stelle die Judendeportationen in die deutschen Vernichtungslager durchgesetzt hatten.

Vorausgegangen war eine in der südpfälzischen Stadt Landau, wo Stempel seit den 1930er-Jahren gelebt hatte, 2016/17 aufgekommene und seitdem schwelende öffentliche Debatte über die Frage, ob heute eine Straße nach einer Persönlichkeit benannt sein kann, die sich nach 1945 massiv für frühere NS-Gewalttäter eingesetzt hat1. Außerdem hatte sich Stempel zeitweise als Vizepräsident bei der »Stillen Hilfe für Kriegsverbrecher und Internierte« betätigt, einer 1951 von Helene Elisabeth Prinzessin von Isenburg (1900–1974, »Mutter Elisabeth«) gegründeten Organisation, die sich ebenfalls für Nationalsozialisten in Gefangenschaft einsetzte und diese als schuldlose Opfer einer alliierten Siegerjustiz darstellte2.

Die zunächst favorisierte Option, zur Aufklärung der Vergangenheit Stempels ein Promotionsstipendium auszuloben, wurde schon nach einem Jahr aufgegeben, da sich offenbar kein geeigneter Kandidat gefunden hatte, der sich der heiklen Aufgabe stellen wollte3. Am Ende fiel die Wahl auf den deutsch-britischen Historiker Nicholas John Williams, den Leiter des Zentrums für ostbelgische Geschichte in Eupen. Das Auftragswerk über Hans Stempel reiht sich zugleich ein in die seit einiger Zeit mit großem Engagement ins Werk gesetzte Aufarbeitung der Geschichte der Evangelischen Kirche in der Pfalz im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit4, in die auch der Autor unmittelbar miteinbezogen ist.

Williams Studie fragt zum einen nach den Akteuren in den »lockeren informellen Netzwerken«, die in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre um Stempel sowie den pfälzischen Pastor Theodor Friedrich (1899–1961) zur Betreuung der Kriegsgefangenen entstanden. Stempel und Friedrich waren freundschaftlich miteinander verbunden und arbeiten so eng zusammen, dass ihre Arbeit – vor allem im Rückblick – kaum voneinander zu trennen ist. Der Untersuchungszeitraum bezieht sich auf die Zeit von den Nürnberger Prozessen 1946 bis zum Tode Stempels 1970. Ein eigenes Kapitel ist der sogenannten Stillen Hilfe gewidmet.

Weiterhin will der Autor eine »akteursbezogene« Analyse des Personenkreises und der von ihm begangenen Taten/Verbrechen vorlegen, der vor allem in französischen Gefängnissen, zum Teil noch lange Zeit nach Kriegsende, inhaftiert war5. Endlich geht es um die Kernfrage der Studie, nämlich aus welcher Motivation heraus sich die Kirchenleute Hans Stempel und Theodor Friedrich für teils schwer belastete internierte NS-Täter nachhaltig und oftmals mit Erfolg einsetzten; ein Tatbestand, der heutzutage, angesichts der Kenntnisse um das Ausmaß der Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, öffentlich kaum nachvollziehbar ist. Waren es primär diplomatisch-politische bzw. Fragen des Rechtsschutzes oder doch eher christlich-seelsorgerische Aspekte, welche die beiden zu ihrem Handeln bewegten?

Williams kann sich bei seiner Arbeit auf eine breite Quellengrundlage stützen, hier – neben einschlägigen Personalunterlagen – vor allem die umfangreichen Nachlässe Hans Stempels6 und Theodor Friedrichs im Zentralarchiv der Evangelischen Landeskirche der Pfalz in Speyer, die m. W. von ihm erstmals umfassend ausgewertet wurden. Hinzu kommen die Papiere des württembergischen Kirchenpräsidenten Theophil Wurm in Stuttgart sowie Martin Niemöllers (1892–1984), der mit Stempel zum Thema häufig korrespondierte. Zur Stillen Hilfe hat Williams ferner Korrespondenzen mit dem deutsch-französischen Arzt und Philosophen Albert Schweitzer (1875–1965) zu Rate gezogen, der in den 1950er-Jahren zeitweise als Ehrenpräsident dieser revisionistischen Nachkriegsorganisation fungierte. Martin Stempel, der Sohn Hans Stempels, verschaffte Williams zudem Zugang zu Unterlagen der Vereinsakte der Stillen Hilfe beim Amtsgericht Walsrode. In geringerem Maß ergänzt werden diese Quellen durch Berliner Unterlagen kirchlicher Provenienz, zum Verband der Heimkehrer sowie durch Ermittlungsakten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in der Ludwigsburger Außenstelle des Bundesarchivs. Westdeutsche Aktenbestände aus der Nachkriegszeit beim Bundesarchiv Koblenz hat Williams nicht konsultiert.

Man merkt der insgesamt guten Studie Williams’ in mehrfacher Hinsicht an, dass sie scheinbar unter einem gewissen Zeitdruck entstanden ist. Dies ist zugleich eine gewisse Schwäche, aber auch eine Stärke der Arbeit. Offenbar wollte die Landeskirche nach den Querelen um die Suche nach einem Projektbearbeiter nicht mehr länger warten, sondern zeitnah vorzeigbare Ergebnisse »liefern«: vor allem die Antwort auf die heikle Frage, warum ein hoher evangelischer Kirchenvertreter den persönlichen Einsatz für NS-Täter am Ende als Lebensaufgabe begriff. Vielleicht war es auch der Autor, der sich alsbald wieder anderen Themen zuwenden wollte. Leider wird in der Einleitung nichts zu der turbulenten Vorgeschichte der Arbeit erwähnt.

Mit einer Darstellung von knapp 200 Textseiten, einem Literaturverzeichnis von gerade einmal fünfeinhalb Seiten und der guten, dennoch einseitigen Quellenauswahl jedenfalls ist es Williams gelungen, sich in kürzester Zeit durch das Dickicht der Quellenrecherche und der Niederschrift des Manuskripts zu schlagen. Dabei wurde wenig nach rechts und links geblickt, um stets das Ziel im Auge zu behalten. Die Arbeit wurde im Oktober 2022 abgeschlossen. Eine abschließende umfassende Darstellung zur Rolle Stempels nach 1945 ist allerdings nicht herausgekommen, war vielleicht auch gar nicht beabsichtigt.

Ich möchte dies an zwei Punkten deutlich machen: Zum einen hat sich Williams bei der Auswahl der in den Fokus gerückten Täterbiografien pragmatisch auf nur sehr wenige Personen beschränkt. Gerade einmal 12 Männer von 230 Personen, die Stempel und Friedrich binnen 20 Jahren betreut haben, werden (mehr oder weniger) detailliert vorgestellt: einerseits SS-Prominente wie Oberg, Knochen oder die KZ-Ärzte Eugen Haagen (1898–1972) und Otto Bickenbach (1901–1971), die an der Reichsuniversität Straßburg tödliche Menschenversuche vorgenommen hatten, aber auch untergeordnete SS-Wachmänner und Kapo-Häftlinge. Zum anderen lassen sich wegen der beschränkten Quellenauswahl, die sich meist ausschließlich an der Nachlass-Korrespondenz Stempels orientiert, gewisse Oberflächlichkeiten nicht vermeiden. Hier hätte der Autor weitere Unterlagen und Spezialliteratur recherchieren und auswerten müssen, um zu einem tiefgründigeren Bild zu kommen, was aber weitere Zeit gekostet hätte7.

Dies zeigt das Beispiel des seit 1946 in Metz inhaftierten früheren Generalreferenten des badischen Gauleiters für das Elsass und Oberstadtkommissars von Straßburg, Robert Ernst (1897‑1980), der im Januar 1955 nach Deutschland abgeschoben wurde. Ernsts Geschichte wird auf fünf Seiten abgehandelt. Bei den biografischen Angaben und der Charakterisierung Ernsts bezieht sich Willams im Wesentlichen auf ältere Literatur- und teilweise auf erklärungsbedürftige Quellenangaben wie einen Brief von Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) an Albert Schweitzer von 1953. Heuss appelliert in dem Schreiben an den aus alten Straßburger Zeiten bekannten Schweitzer, sich als Franzose in Paris für die Freilassung Ernsts einzusetzen, dem man »nichts Unhonoriges« vorwerfen könne (S. 127)8. Und in Bezug auf Ernsts politische Betätigung nach 1955 kommt Williams mangels Einbezug weiterer Quellen zu dem falschen Schluss, dass dieser nach seiner Abschiebung nach Deutschland »jede irredentistische Aktivität in Bezug auf das Elsass« eingestellt habe (S. 123). Tatsächlich aber mischte Ernst, vor allem in der Frankfurter Erwin-von Steinbach-Stiftung, bis zu seinem Tode 1980 nach wie vor aktiv mit, wenngleich jetzt »hinter den Kulissen«, d. h. in nicht von außen einsehbaren Ämtern.

Worin liegt die Stärke der Arbeit? Indem Williams stringent seine drei Fragestellungen im Blick behält und kurz und knapp abarbeitet: 1. die seit 1946 von Stempel gesponnenen Netzwerke; 2. die Gründe für Stempels und Schweitzers Mitarbeit bei der Stillen Hilfe und 3. Stempels eigentliche Motive für die Hilfeleistung, kommt er am Ende zu klaren und nachvollziehbaren Aussagen, die wohl auch in Zukunft Bestand haben werden.

Als de facto »Ratsbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) für die Betreuung der Kriegsverurteilten« erfüllte Stempel seine Aufgabe. Obwohl es offenbar niemals eine offizielle Beauftragung durch den Rat der EKD gegeben hatte, war Stempels Einsatz dennoch nie ein Geheimnis. Entsprechend erhielt er 1955 für seine Leistung das Bundesverdienstkreuz. Die gemeinsame Zielsetzung von Stempels Netzwerken war dabei, auf die Freilassung der deutschen Gefangenen hinzuarbeiten. Ein grundsätzliches Hinterfragen des Einsatzes fand nicht statt, er wurde vielmehr als »selbstverständlich« betrachtet. Allerdings leistete Stempel nicht nur Seelsorge, sondern agierte immer auch politisch. Die Betreuung von NS-Tätern genoss Vorrang, sich für einen inhaftierten Kommunisten einzusetzen, konnte ihn dagegen nicht erwärmen. Und indem Stempel bei seiner Tätigkeit mit französischen Ansprechpartnern wie dem Militärgeistlichen Marcel Sturm (1905–1950) oder Marc Boegner (1881–1970) kooperierte, dem Präsidenten der Fédération protestante de France, trug er aktiv zur deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945 bei. Dafür zeichnete die Republik Frankreich Stempel aus und ernannte ihn zum Ritter der Ehrenlegion.

Für die Stille Hilfe waren Hans Stempel und Albert Schweitzer als herausragende christliche Exponenten »symbolisches bzw. moralisches Kapital von hohem Wert« (S. 111). Den gesellschaftspolitischen offenen Revanchismus der Stillen Hilfe, der sich bald in einer zunehmend lauter ausgetragenen Konfrontation mit Repräsentanten der jungen Bundesrepublik offenbarte, trugen die beiden jedoch nicht mit. Ihnen ging es um die Befreiung deutscher Gefangener im Ausland – ohne dabei viel Wind zu machen. Entsprechend zogen sich beide Ende der 1950er-Jahre aus der Stillen Hilfe zurück.

Um zu verstehen, warum Stempel sich für NS-Täter einsetzte, plädiert Williams für eine Sichtweise, die das Handeln der Akteure aus ihrem jeweiligen Kontext heraus zu beurteilen versucht. Das mag kritikwürdig sein, vermeidet aber die methodisch problematische Rückprojektion aktueller Bewertungsmuster auf historisch vergangene Prozesse. Stempel agierte in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, einem Umfeld, in dem allgemeiner Konsens darüber herrschte, die inhaftierten NS-Täter als Kriegsverurteilte anzusehen und zwischen Kriegsgefangenen und »Kriegsverbrechern« keinen Unterschied zu machen – auch wenn damit »das Leid der Opfer« der NS-Rassenpolitik ausgeblendet und »Täter zu Opfern umetikettiert« (S. 188) wurden. Insofern vertrat Stempel ein heute nicht mehr vertretbares Schuldverständnis, das freilich, nur weil es aus heutiger Perspektive vielfach »defizitär« war, dennoch existierte (S. 193).

Eine letzte Frage ist, ob die Hans-Stempel-Straße in Landau nun umbenannt werden muss oder nicht. Für beide Sichtweisen gibt es gute Argumente. Williams Studie zeigt, dass Stempel kein eigentlicher »Nazi« war, der nach 1945 lediglich seine Schäfchen (bzw. die seiner »Schutzbefohlenen«) ins Trockene zu bringen oder in der Anonymität der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft möglichst geräuschlos unterzutauchen versuchte. Zudem hat Stempel in seiner Funktion als evangelischer Kirchenführer – vor und nach 1945 – auch Leistungen vorzuweisen. Die Frage der Straßenumbenennung in Landau kann nicht wissenschaftlich entschieden werden, sie muss politisch gelöst werden, durch den Rat der Stadt und die Bürgerschaft. Und da gelten auch noch so knappe Mehrheitsentscheidungen.

1 Pars pro toto: Die Rheinpfalz vom 17.6.2017, 19.5.2018; auf exakte Belege wird hier aus Platzgründen verzichtet. Die Debatte lässt sich aber leicht in zahlreichen Artikeln der pfälzischen Regionalzeitung »Die Rheinpfalz« im Internet jetzt leicht nachverfolgen.
2 Zur öffentlichkeitsscheuen Stillen Hilfe ist bis heute nur wenig Substanzielles bekannt; vgl. aber Oliver Schröm, Andrea Röpke, Stille Hilfe für braune Kameraden. Das geheime Netzwerk der Alt- und Neonazis, Berlin 2001/2006.
3 In diesem Kontext ist erwähnenswert, dass auch zu dem württ. Kirchenpräsidenten Theophil Wurm (1868–1953), der sich wie Stempel für inhaftierte Nationalsozialisten einsetzte, trotz guter Quellenlage bis heute keine wiss. Biographie vorliegt. Wurm gilt als interessante, weil eigenwillige, selbstbewusste Persönlichkeit, die neben ihrer ambivalenten Haltung zum NS-Regime auch auf die Spielräume für Resistenz und Selbstbehauptung verweist; eigentlich eine Aufgabe für die sonst so rührige württembergische Kirchengeschichte, die sich hier seltsam inaktiv erweist.
4 Christoph Picker u. a. (Hg.), Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, 2 Bde., Speyer 2016; Nicholas J. Williams, Christoph Picker (Hg.), Die Kirche und die Täter nach 1945. Schuld – Seelsorge – Rechtfertigung, Göttingen 2022.
5 Vgl. dazu Claudia Moisel, Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004; Bernhard Brunner, Der Frankreich-Komplex. Die nationalsozialistischen Verbrechen in Frankreich und die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2004.
6 Im Nachlass von Hans Stempel sind insgesamt 256 Akten zur Betreuung von Einzelpersonen überliefert; vgl. Gabriele Stüber, Christine Lauer, Schuld, Vergebung, Versöhnung. Hans Stempel und sein Einsatz für NS-Täter, 1945–1970, in: Williams, Picker, Die Kirche (wie Anm. 4), S. 75.
7 Immerhin räumt Williams ein, dass aufgrund von Umbauarbeiten und der Covid-19-Pandemie zeitweise viele Archive nicht zugänglich waren und aus »rechtlichen und organisatorischen [sic!] Gründen« eine Nachrecherche nicht mehr möglich war.
8 Das Schreiben vom 10.11.1953 findet sich etwa mehrfach im Internet und ist auch in Ernsts deutschem Wikipedia-Artikel zitiert, bedarf aber dringend der Interpretation.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hubert Roser, Rezension von/compte rendu de: Nicholas John Williams, »Die Gefangenen leiden sehr unter ihrer Lage«. Die Betreuung deutscher NS‑Täter durch Hans Stempel und Theodor Friedrich, Stuttgart (Kohlhammer) 2023, 209 S. (Forum historische Forschung: Moderne Welt), ISBN 978-3-17-042471-5, EUR 49,99., in: Francia-Recensio 2024/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.1.103886