Ein Dynastiegründer, der durch die Wahl der Großen und »fast durch Zufall« auf den Thron gelangte, zeit seines Lebens »unter einem Legitimitätsdefizit litt« (beide Zitate S. 13) und während seiner Regierungszeit mit einem ganzen Bündel wirtschaftlicher, ökologischer, politischer und militärischer Krisen zu kämpfen hatte – das ist der Gegenstand und letztlich auch die interpretatorische Leitlinie des hier vorzustellenden Buches. Es geht um Philipp VI., der als Vetter der letzten Könige 1328 den französischen Thron bestieg, nachdem die kapetingische Dynastie im direkten Mannesstamm ausgestorben war. Zu den drei letzten Kapetingern hat Christelle Balouzat-Loubet, maître de conférence an der Universität Nancy, bereits 2019 ein vergleichbares Werk veröffentlicht; nun ist »der erste der Valois« an der Reihe.
Ein – sei es auch populärwissenschaftliches – Buch über Philipp von Valois ist keine Selbstverständlichkeit. Zum einen wurde Philipp bislang weder von der mediävistischen Forschung noch von der weiteren Öffentlichkeit in irgendeiner Hinsicht als herausragend wahrgenommen; zum anderen gehörte Herrschergeschichte in einer von den Grundsätzen der Annales geprägten Umgebung lange Zeit nicht zu den Schwerpunkten der französischen Mediävistik. Materiell beruht die Darstellung denn auch in vielen Bereichen auf den immer noch grundlegenden älteren Arbeiten von Jules Viard und Raymond Cazelles, die neben den wichtigsten chronikalischen Quellen in der Einleitung auch explizit gewürdigt werden. Daneben werden neuere Erkenntnisse zur Kulturgeschichte des Politischen, zur Verwaltungsgeschichte und zur Gestalt französischer Fürstenherrschaft einbezogen. Aufgrund ihrer eigenen Arbeiten u. a. zur Regierung der 1329 verstorbenen Gräfin Mahaut von Artois ist die Verfasserin in hohem Maße befähigt, die Ergebnisse der älteren und jüngeren Forschung zu einer kohärenten Darstellung zusammenzufassen.
Wie wird Philipp nun König von Frankreich, wie agiert er als Herrscher und mit welchen Entwicklungen muss er sich auseinandersetzen? Balouzat-Loubet behandelt diese Fragen in weitgehend chronologischem Zugriff, wobei einzelne Sachverhalte an passender Stelle auch in größere zeitliche und thematische Zusammenhänge eingeordnet werden. Das erste Kapitel befasst sich mit Philipps Leben vor der Erhebung zum König und seiner Stellung in der französischen Fürstengesellschaft, in der insbesondere sein Vater Karl von Valois eine herausragende Rolle gespielt hatte. Das zweite Kapitel stellt die personellen, institutionellen und ideellen Grundlagen vor, auf denen seine Herrschaft seit seiner Thronbesteigung 1328 beruhte. Das kurze dritte Kapitel thematisiert zwei »kapetingische Altlasten«, mit denen sich der König in den ersten Regierungsjahren auseinandersetzen musste. Zum einen gelang es Philipp, die rebellischen Flamen bei Cassel zu besiegen. Zum anderen musste er im Konflikt um das Artois, der seit 25 Jahren schwelte, eine Entscheidung treffen, die umso schwieriger war, als er mit beiden Parteien eng verbunden war. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen die Reformbemühungen, Kreuzzugsplanungen, Ehebündnisse und frommen Werke der ersten sieben Regierungsjahre, die Balouzat-Loubet vor allem als Maßnahmen zur Konsolidierung der dynastischen Legitimität in den Blick nimmt. Das fünfte Kapitel schließlich behandelt den 1337 ausgebrochenen Krieg mit dem englischen König Eduard III., der das französische Herrschaftsgefüge nicht erst seit den Niederlagen der 1340er-Jahre unter starken Stress setzte.
Balouzat-Loubets Buch ist ein Exemplar jenes französischen Genres, das wissenschaftlichen Anspruch mit der Ausrichtung auf ein breiteres Publikum verbindet. Auf der Grundlage des derzeitigen französischen Forschungsstandes bietet das Werk eine gut geschriebene Geschichte Philipps VI. und seiner Zeit, die ein vertieftes Verständnis der spätmittelalterlichen Herrschaftsrealitäten ermöglicht und an passender Stelle auch Ausblicke auf längerfristige Entwicklungen und europäische Kontexte eröffnet. Kleinere Unstimmigkeiten fallen kaum ins Gewicht (so die Karten auf S. 20 und 140, die den französischen Gebietsstand von 1328 jeweils unterschiedlich und in beiden Fällen definitiv falsch angeben). Auch die Tatsache, dass die eher knappen Belege in einen unpraktisch zu benutzenden Endnotenapparat verbannt sind, ist zumindest solange nicht der Autorin anzulasten, wie Verlage und Publikum diese Form der Wissenschaftlichkeitsleugnung tolerieren oder gar forcieren.
Ernsthafte Kritik soll nur in zwei Punkten geäußert werden. Zum einen blendet Balouzat-Loubet vollständig aus, dass der Hof Philipps VI. zumindest zeitweise durch heftige Parteikonflikte geprägt ist. Damit befindet sie sich zweifellos in guter Gesellschaft, denn die frankreichbezogene Forschung hat solchen Phänomenen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts kaum Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. als jüngere Ausnahme Olivier Canteauts einschlägigen Aufsatz1). Doch spielt das Konzept der Partei gerade bei ihrem Gewährsmann Cazelles eine durchaus wichtige Rolle und hätte von der Verfasserin insofern zumindest diskutiert werden sollen. Dies hätte an verschiedenen Stellen auch ein nuancierteres Verständnis der beobachteten Konfliktkommunikationen ermöglicht (etwa hinsichtlich der vielfältigen Vorwürfe gegen Philipps Königin Jeanne, 75–81).
Zum anderen wäre die zentrale Prämisse von Balouzat-Loubets Darstellung noch einmal zu hinterfragen – dass nämlich der kapetingische Prinz Philipp von Valois aufgrund des »Dynastiewechsels von 1328« und seiner Wahl durch die Fürsten unter einem besonderen Legitimitätsdefizit gelitten habe. Auch hier befindet sich die Verfasserin im Einklang mit dem größten Teil der frankreichbezogenen Mediävistik, die sich mit der Zeit Philipps VI. freilich kaum intensiv beschäftigt hat, doch ist der Rezensent – auch aufgrund eigener Forschungen – skeptisch.2 Wie arbiträr die dynastische Abgrenzung von Kapetingern und Valois ist, erhellt schon daraus, dass Philipps Vater Karl auf der Tafel nach S. 128 zwar als »Valois« erscheint, dessen Bruder Ludwig von Évreux aber »kapetingisch« eingefärbt ist – von solchen Absurditäten wie der Behauptung einer »fehlenden geblütsrechtlichen Legitimierung« von Philipps Herrschaftsantritt (65) einmal ganz abgesehen. Die Forschung erliegt hier offenbar seit langem der Suggestivkraft ihres eigenen Konstrukts.
Auch im vorliegenden Buch hat der Rezensent keine überzeugenden Belege für die stetig wiederholte Behauptung gefunden, dass Philipp mit einem Legitimitätsdefizit zu kämpfen gehabt habe und alle seine Handlungen vor diesem Hintergrund zu deuten seien. Gewiss hatte Philipp von Valois mit Problemen zu kämpfen, wenn auch gerade in der Anfangsphase vielleicht weniger als seine unmittelbaren Vorgänger. Auch bemühte er sich zweifellos darum, seine Position zu konsolidieren – aber das unterschied ihn nicht grundsätzlich von anderen spätmittelalterlichen Herrschern. Dass der englische König Eduard ab 1337 unter Berufung auf eigene Thronansprüche den englisch-französischen Konflikt eskalierte, potenzierte dann freilich die Probleme, ist aber ebenfalls nicht sinnvoll als Ausdruck eines innerfranzösischen Legitimitätsdefizits zu lesen.
Indes ist die hier nur angedeutete Diskussion innerhalb des Faches noch zu führen. Christelle Balouzat-Loubets Buch stellt dafür einen guten Ausgangspunkt dar. Allen Forschungsbibliotheken mit frankreichbezogenem Schwerpunkt – und mehr noch allen interessierten Studierenden – sei es daher zur Anschaffung gerne empfohlen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Georg Jostkleigrewe, Rezension von/compte rendu de: Christelle Balouzat-Loubet, Philippe VI. Le premier des Valois, Paris (Éditions Passés composés) 2023, 251 p., ISBN 978-2-37933-385-9, EUR 21,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104905