Die hochgotischen Backsteinkirchen im südlichen Ostseeraum, deren Baubeginn nach 1265 festzusetzen ist, weisen so zahlreiche Gemeinsamkeiten aus, dass man bei den Kirchen von Lübeck (Dom und St. Marien), Schwerin (Dom), Doberan (Münster), Rostock (St. Marien) und Stralsund (St. Nicolai) von Schwesterkirchen spricht, deren architektonische Konzepte weitere Kirchenbauten in Norddeutschland bis in das 15. Jahrhundert hinein beeinflussten. Wie andere hochgotische Kirchen sind sie als Basiliken mit Chorumgang und Kapellenkranz angelegt, jedoch sind im Ostseeraum Chorumgang und Kapellenkranz so miteinander verzahnt, dass je ein Umgangsjoch mit der anliegenden Kapelle unter einem Gewölbe zu einem Raum zusammengeschlossen wurde, der im Grundriss als Halbkreis von sechs um den Binnenchor gruppierten Hexagonen erscheint. Über die Frage, wann und wie diese Formensprache in den hanseatischen Raum gelangte, herrschte gut 100 Jahre lang weitgehend Konsens. So sei irgendwo in Nordfrankreich oder Flandern der Ausgangspunkt dieses Transfers hochgotischer Bauformen zu suchen, welche zunächst durch Kaufleute nach Lübeck gebracht wurden. Von Lübeck aus habe sich dann die Hochgotik im Ostseeraum weiterverbreitet. Obwohl für diese These schriftliche Belege fehlen, ist sie bisher kaum in Zweifel gezogen worden. Einen neuen Ansatz in dieser Frage versucht die hier vorzustellende Arbeit zu leisten, indem sie sich vor allem auf schriftliche Belege und einige architektonische Analogien stützt. An die Stelle Lübecks rückt hierbei der Schweriner Dom als möglicherweise ältester dieser Bauten in das Zentrum der Betrachtung, dessen Grundriss und zahlreiche architektonische Elemente maßgeblich von Pariser Kirchen, die wenige Jahre zuvor errichtet wurden oder sich zu dieser Zeit im Bau befanden, beeinflusst worden seien. Der auf 1265 datierte Baubeginn des Doms habe dann die weiteren Kirchenbauten inspiriert.

Ausgangspunkt dieses neuen Ansatzes ist ein lange bekannter aber bisher kaum beachteter Beleg, Bischof Rudolf I. von Schwerin habe »um 1260« in Paris von Ludwig IX. einen Dorn aus der Dornenkrone Christi erhalten. Diese an einen norddeutschen Bischof gerichtete außergewöhnliche Reliquienschenkung bildete wiederum den Anlass für den Neubau des Schweriner Doms. Durchaus schlüssig gelingt es dem Autor, diese Reliquienschenkung in einen Zusammenhang mit der am 6. Oktober 1262 in Saint-Germain-des-Prés in Abwesenheit des Bräutigams vollzogenen Eheschließung Herzog Albrechts I. von Braunschweig mit Alessina von Montferrat, einer Nichte der englischen Königin, zu stellen. Bischof Rudolf stand an der Spitze der Braunschweiger Delegation. Der achtwöchige Aufenthalt in Paris bot den Mitgliedern der Delegation, zu der auch Domherren des Schweriner Domkapitels gehörten, hinreichend Gelegenheit, Pariser Kirchen zu besuchen und deren Architektur zu studieren. Von den baufreudigen Königen Heinrich III. und Ludwig IX. dürften die Braunschweiger Delegierten in ihrem Schweriner Neubauvorhaben noch bestärkt worden sein.

Das Bestreben Ludwigs IX., die Abstammung der Kapetinger über flandrische Ahnen auf die Karolinger zurückzuführen und dies in einer Aufwertung und Neugruppierung der königlichen Grablegen in der Abtei St. Denis um 1260 zum Ausdruck zu bringen, dürfte auf die Schweriner Domherren nicht ohne Wirkung geblieben sein. Denn über die gleichen flandrischen Verwandtschaftsverhältnisse ließ sich auch der Stammbaum des Welfen Heinrichs des Löwen auf die Karolinger zurückführen, was eine erhebliche Rangsteigerung des Schweriner Domgründers bedeutete. Hierin sieht Conrades einen Hauptgrund dafür, dass in Schwerin Chor und Querhaus wesentliche architektonische Elemente der Basilika von St. Denis aufgriffen. Formelemente der Sainte-Chapelle, in der Rudolf den Dorn aus den Händen Ludwigs IX. empfangen hatte, der Abtei Saint-Germain-des-Prés, in der die Braunschweiger Delegation logierte, des 1262 fertiggestellten Südportals von Notre-Dame und wesentliche Merkmale der Pariser Franziskanerkirche Sainte-Madeleine sind am Schweriner Dom nachweisbar, sodass der Einfluss der Pariser Architektur auf die norddeutsche Backsteingotik offensichtlich scheint.

Mit dem Dombau in Schwerin ist 1265 begonnen worden, 1272 war der Chor im Bau und im Herbst 1274 die mittlere Kranzkapelle des Chorumgangs fertiggestellt. Diesem aus den vorhandenen Quellen nachvollziehbaren Datierungsansatz für den Schweriner Dombau setzt Conrades schließlich die Quellenbelege zum Bau der fünf norddeutschen Schwesterkirchen entgegen. Die ursprünglich als ältester Kirchenbau in dieser Reihe angesehene Lübecker Marienkirche wurde bereits in den letzten Jahrzehnten in dieser Rolle vom Lübecker Dom abgelöst. Dessen Baubeginn kann jedoch nicht vor 1269/1270 datiert werden. Mit dem Bau der Lübecker Marienkirche, die nicht nur dem architektonischen Konzept des Lübecker Doms folgt, sondern auch vom Kölner Dom inspiriert ist, wurde zwischen 1278 und 1281 begonnen. Der Baubeginn des Doberaner Münsters fällt ebenfalls in die späten 1270er- oder Anfang der 1280er-Jahre. Die Pfarrkirchen St. Nicolai in Stralsund und St. Marien in Rostock sind die jüngsten Kirchen dieser Gruppe, an denen mit den Arbeiten noch im 13. Jahrhundert begonnen wurde.

Der opulent mit zahlreichen Abbildungen und Zeichnungen ausgestattete Band stellt die schriftlichen Zeugnisse zum Schweriner Dombau in einen neuen Zusammenhang und eröffnet damit eine neue Sichtweise auf die Genese der norddeutschen Backsteingotik und die Herkunft der sie prägenden Formelemente aus dem Pariser Raum. Neu zu bewerten sind die Motive zum Neubau des Schweriner Doms, der Bauverlauf und die prägende Rolle dieser Bischofskirche für die weiteren norddeutschen gotischen Backsteinbasiliken. Nun bleiben weitere bauhistorische Untersuchungen am Dom abzuwarten, die zeigen dürften, inwieweit sich die Argumentation Conrades durch die noch vorhandene Bausubstanz bestätigen lässt. Es ist das Verdienst des Autors, den Blick auf die bisher kaum beachteten Beziehungen des norddeutschen Bistums nach Paris zu öffnen und in ihrer Bedeutung herauszustellen, Beziehungen, die um 1260 nicht nur für das Schweriner Bistum nachzuweisen sind. Anzumerken bleibt schließlich nur, dass der vorzügliche Band auf ein Register verzichtet, was seine Nutzung erschwert. Ein solches hätte auch einige ärgerliche Wiederholungen im Text vermieden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Schoebel, Rezension von/compte rendu de: Rudolf Conrades, Der Schweriner Dom und König Ludwig IX. von Frankreich. Zum Transfer der Hochgotik in den Ostseeraum, Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2023, 365 S., ISBN 978-3-7319-1123-4, EUR 49,95., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104909