Der von Léonard Dauphant herausgegebene Band enthält eine im Rahmen des Programmes »Metz 1500« der Université de Lorraine (2019–2022) erarbeitete interdisziplinäre Bestandsaufnahme des Forschungsstandes zu Metz zur Zeit des Chronisten Philippe de Vigneulles (*1471–†1527/1528). Dabei kommen achtzehn Forschende aus Geschichts- und Literaturwissenschaft, Linguistik und Archäologie zu Wort. Um 1500 erlebte die städtische Kultur der französischsprachigen reichsunmittelbaren Bischofsstadt Metz eine Blütezeit. Mit ca. 20 000–30 000 Einwohnern gehörte sie damals zu den größten Städten des Reiches. Zwischen 1430 und 1550 entstanden dort etwa zwanzig historiographische Werke (17). Außer den Schriften Vigneulles’, die hier verbindend im Mittelpunkt der Aufsätze stehen, wies Metz im Spätmittelalter noch weitere bedeutende Chronisten auf, deren Tätigkeit in den letzten Jahren ebenfalls verstärkt erforscht wurde. Dazu gehören u. a. Jacques Dex (Chroniques, entstanden ca. 1433–1439) und Jean Aubrion (ca. 1440–1501, sog. Journal, Zeitraum ab 1464, fortgesetzt durch Pierre Aubrion bis 1512). Aubrions Darstellung war nach Aussagen Vigneulles’ für ihn eine wichtige Quelle. Unter den Autoren der Metzer Geschichtsschreibung nimmt Philippe de Vigneulles dadurch eine besondere Position ein, dass er weder dem städtischen Patriziat angehörte, noch in der Stadt geboren war. Zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert wurde Metz durch Angehörige von sechs streng gegen Dritte abgeschlossene, durch Abstammung und Heirat eng miteinander verbundene paraiges regiert. Die Mitgliedschaft konnte nur durch Erbgang vom Vater oder über den Großvater mütterlicherseits erlangt werden. Nur eingetragene Angehörige dieser paraiges konnten städtische Ämter ausüben. An der Spitze der Stadtregierung stand ein jährlich nach einem Rotationssystem aus diesen Körperschaften gewählter maître-échevin. Verwaltung und Justiz der Stadt unterstanden einem dreizehnköpfigen Rat, den sog. treize jurés. Hinzu kamen zahlreiche, für unterschiedliche Bereiche eingesetzte Siebenerausschüsse (siehe Schaubild, 21). Die faktische Macht in Metz war zur Zeit Vigneulles’ daher auf eine kleine Gruppe von ca. zehn bis fünfzehn Familien begrenzt. Aufgrund demographischer Schrumpfungsprozesse führte dies schließlich zu Problemen bei der Besetzung städtischer Ämter. Die Anzahl dafür wählbarer Paraigemitglieder betrug 1388 noch 155, ging aber in den Jahren 1527, 1533 und 1538 auf 25 zurück (224–225). Vigneulles besaß zwar das Bürgerrecht von Metz, gehörte aber nicht zu diesem Kreis. Er wurde 1471 in Vigneulles in der Nähe von Metz geboren und stammte aus einer wohlhabenden Bauernfamilie. Als Kaufmann und Tuchhändler gelangte er zu Wohlstand. Er sprach in Bezug auf die Stadtregierung von den »seigneurs de la cité« oder gebrauchte Formulierungen wie »seigneurs et recteurs de la noble cité de Metz« (210). Wie Laurent Litzenburger eindrücklich zeigt, litten der Autor (der mehr als zwanzig Ansteckungen überlebte) und seine Familie ebenso wie Metz als solches schwer unter den häufig wiederkehrenden Epidemien. Von den zwölf Kindern des Chronisten erreichten nur zwei das Erwachsenenalter. Sein Werk umfasst neben historiographischen Texten (Chroniques, autobiographisch bestimmte Mémoires) auch literarische Werke, wie die Cent nouvelles nouvelles und die Übertragung der gereimten Geste des Loherains in Prosa.

Die Publikation beginnt mit einer einleitenden Sektion mit drei Beiträgen zu Philippe de Vigneulles und »seiner« Stadt (Léonard Dauphant), zu Metz als Freier Stadt (Amélie Marineau-Pelletier/Antoine Lazzari) und zur Stadtkultur und dem literarischen Erbe von Vigneulles (Mireille Chazan). Die Aufsätze werden durch ein Glossar zu Institutionen und Begriffen der Stadtverfassung mit einem Schema des Verfassungsaufbaus ergänzt. Es folgen fünf weitere Sektionen: Die erste behandelt die Metzer Gesellschaft zur Zeit Vigneulles’ (Jean-Christophe Blanchard zur Heraldik im öffentlichen Raum; Hélène Schneider zum Verhältnis der Stadt Metz zu René II., Herzog von Lothringen [1489–1493]; Aurore Gasseau zur Bibliothek des Kanonikers Arnoul Thierri; Bruno Jané zum Münzwesen); Die zweite beschäftigt sich mit Sprachen/Sprachkenntnissen Vigneulles’ (Sylvie Bazin-Tacchella zur mittelfranzösischen Sprache und den regional geprägten sprachlichen Besonderheiten seiner Mémoires; Jean-Charles Herbin zu seiner Prosafassung der Geste des Loherains; Nikolaus Ruge zu Spuren der nahe bei Metz verlaufenden deutsch-französischen Sprachgrenze). Die dritte Sektion untersucht das Schreiben von Geschichte (Alain Cullière zu den Mémoires; Hanna Schäfer zu einer zentralen Quelle der Chroniques Vigneulles’, der autographen Handschrift des sog. Journal des Jean Aubrion). Der vierte Abschnitt fragt nach dem politischen Bewusstsein Vigneulles’ (Dominique Adrian zu Geheimhaltung und politischem Dialog; A. Marineau-Pelletier zur sozialen Zusammensetzung und dem Heiratsverhalten des in den paraiges politisch organisierten Metzer Patriziats; A. Lazzari zu zwei unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Heilige Römische Reich bei Jacques Dex und Vigneulles). Der fünfte und letzte Teil analysiert Vigneulles’ Beschreibungen des damaligen Metz’ und seines äußeren Erscheinungsbildes (Laurent Litzenburger zu Epidemien, besonders der Pest, einschließlich der familiären Folgen für den Chronisten; Philippe Martin zu Prozessionen; Mylène Parisot zur mittelalterlichen Stadtbefestigung und damit verbundenen großen Baustellen; Julien Trapp zu Erneuerungs- und Erweiterungsarbeiten, und zu Beschreibungen römischer Funde und damals noch besser erhaltener antiker Bauten im Werk Vigneulles').

Eine Zusammenfassung des Herausgebers, bibliographische Angaben, Register und Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren schließen den Band ab. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine editorische Grundentscheidung, die der Publikation ein deutlich über das bei Tagungsbänden sonst übliche Maß an inhaltlicher Kohärenz verleiht: Jede der fünf einzelnen Groß-Sektionen wird durch eine kurze Einleitung L. Dauphants vorgestellt. Die einzelnen durch Bildmaterial ergänzten Kapitel sind durchgängig von etwa gleicher Länge, was zu einem ausgewogenen Gesamteindruck beiträgt. Inhaltlich ergänzt die Publikation den von M. Chazan zur Metzer Geschichtsschreibung 2011 vorgelegten Sammelband1 und eine weitere von L. Dauphant (mit )herausgegebene neue Veröffentlichung zum Thema der Staatsbildungsprozesse in Metz und Umgebung (2023).2 Bezüglich der Textgrundlagen der Erforschung der Metzer Geschichtsschreibung, die sich bisher, wie im Fall von Jacques Dex, oft noch auf heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht mehr genügende »alte« Editionen stützen muss, wird eine Neuedition der Mémoires von Vigneulles durch S. Bazin-Tacchella angekündigt.

Das Buch belegt abermals die neue Dynamik in der Erforschung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtgeschichte von Metz. Es bereichert den bisherigen Kenntnisstand in sehr erfreulicher Weise um eine Zusammenschau neuerer interdisziplinärer Forschungsergebnisse sowie mehrerer in den letzten Jahren abgeschlossener Dissertationen und anderer universitärer Abschlussarbeiten. Darunter befinden sich auch die bisher (noch) ungedruckten Dissertationen von A. Lazzari zur Dynastie der Luxemburger bei Jacques Dex oder von A. Marineau-Pelletier zu den lettres missives und zu Schriftlichkeit und Sprachgebrauch der Stadtregierung und -verwaltung bzw. der paraiges von Metz.

1 Siehe Mireille Chazan, Gérard Nauroy (dir.), Écrire l’histoire de Metz au Moyen Âge, Bern 2011.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Léonard Dauphant (dir.), Metz 1500. Pouvoir et culture urbaine au temps de Philippe de Vigneulles, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2023, 378 p., ill., cartes (Histoire et civilisations), ISBN 978-2-7574-3986-9, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104913