Geschichtsforschung und Historische Hilfswissenschaften nicht nur in Dialog zu bringen, sondern ihre wechselseitige Verzahnung und unabdingbare Zusammengehörigkeit ausgehend von einer konkreten Methode, einem spezifischen Bereich und mit Blick auf eine lange zeitliche Erstreckung deutlich zu machen, ist Kernanliegen der jüngsten Monographie David d’Avrays. Zugleich stellt das Werk die Synthese langjähriger Forschungs- und Lehrtätigkeit dar (vgl. XI). Es erhebt den Anspruch, die Ergebnisse der internationalen, insbesondere deutschsprachigen Forschung zu vereinen (4). Dies geschieht im Sinne von »applied papal diplomatics« mit kulturwissenschaftlichem Zugang, wie sie besonders durch die Arbeiten Heinrich Fichtenaus und Othmar Hageneders grundgelegt und durch Peter Rück und andere in verschiedene Richtungen weiterentwickelt wurde. Zeitlich wird der Rahmen über das Spätmittelalter hinaus ausgedehnt. Die Studie ist eng verknüpft mit Transkriptionen einzelner Stücke im Anhang, die den zeitlichen Rahmen von der Spätantike bis um 1600 widerspiegeln, den sich die Arbeit setzt. Als Zielpublikum lässt sich neben den hilfswissenschaftlichen Spezialforschenden die Papsttumsforschung insgesamt ansprechen, wie d’Avray in einer Art Devise pointiert formuliert: »Diplomatics is not a handmaid but integral to historical understanding of the papacy« (8). Deutlich wird dies etwa – im Anschluss an Heinrich Fichtenau – an dem Hinweis auf die Bedeutung der Arenga für ein kuriales »office charisma« (7).

In der Einleitung (1–13) skizziert der Autor seine zentrale Forschungsfrage, die er in Anlehnung an die Studien Othmar Hageneders prägnant als »Hageneder’s question« einführt.1 Diese ist es, die sich als roter Faden durch die gesamte Untersuchung zieht und damit dem chronologischen Überblick eine inhaltliche Struktur zugrunde legt. Sie lautet: »How did the papacy govern the religious life of Europe without the financial and military resources of a secular state?« (2). Die daraus abgeleitete zentrale These besagt: »What kind of power did popes have? Diplomatics can tell us that it was the power of ›responsive‹ governments, answering rather than initiating, and also that the prooemia of the responses were a channel through which the apostolic see poured its image into the minds of those to whom it responded, and of the readers of canon law collections into which their responses were incorporated« (4). Für den Forschungsstand ist die Auffassung päpstlicher Herrschaft als »responsive government« zentral (5).

Das zweite Kapitel bietet einen konzisen Überblick über die Forschungsgeschichte der Urkundenlehre (14–37) mit Benennung von Desideraten, insbesondere dessen einer päpstlichen Diplomatik der (Frühen) Neuzeit jenseits der Renaissance (25‑26). Das Buch stellt sich daher die Aufgabe, »Hageneder’s question« bis in die nach-tridentinische Periode nachzugehen (3). Dies solle im Gegensatz zu vielen Handbüchern deutscher, französischer und italienischer Provenienz, die sich vorwiegend auf die hilfswissenschaftlich-technischen Aspekte von »pure diplomatics« beschränkten, in einer Verknüpfung mit konkreten Fragestellungen der allgemeinen Politik- und Kulturgeschichte geschehen – in diesem Sinne »applied« (37).

Das dritte Kapitel (38–76) arbeitet unter anderem die Bedeutung der ersten päpstlichen Dekretalensammlungen und der petrinischen »Ideologie« in den prooemia von Papsturkunden heraus (39–42) und spannt einen Bogen von der Spätantike bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts. Dabei werden neben den großen Entwicklungslinien in äußeren und inneren Merkmalen sowie dem Kanzleibetrieb auch Sonderbereiche wie die Exemtion von Klöstern diachron erörtert (54–59). Für das frühmittelalterliche Paradox, demzufolge eine schwache Latinität der Papsturkunden einem dennoch hohen Prestige und damit einer großen Nachfrage von Empfängerseite gegenüberstand, liefere wiederum die »applied diplomatics« eine Antwort (54). Die Größe der Papyrusurkunden und ihre sehr hermetische Schrift, die päpstliche Kuriale, hätten einen wesentlichen Beitrag zum Prestige der Papsturkunde geliefert, auch dann, wenn der Rechtsgehalt sprachlich präziser und grammatikalisch korrekter zu fassen gewesen wäre. Durch die gelegentliche Referenz auf die textliche Varianz der Dokumente und den Apparatus criticus im Verweis auf die Transkriptionen im Anhang wird ein Rückbezug an das konkrete Untersuchungsmaterial hergestellt, der die im Überblick gebotenen Ergebnisse nachvollziehbar absichert.

Im vierten Kapitel (77–136) wird die Zeit von der institutionell stärker greifbaren kurialen Verwaltung ab Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum Beginn des Großen Abendländischen Schismas 1378 behandelt. Interessante Anregungen für die Forschung bietet hier der Hinweis, dass England der Kurie in Sachen Registerführung im 13. Jahrhundert voraus war (107 bes. Anm. 125), was insbesondere für die vergleichende Untersuchung der päpstlichen Kanzleiregister im europäischen Kontext weiterzuverfolgen wäre. Die Verknüpfung von didaktischer und präziser fachwissenschaftlicher Arbeit bietet beispielsweise die englische Übersetzung eines Originals (110–111), das im Anhang transkribiert wird und eingehende Kommentierung erfährt. Diese stete Rückbindung an konkrete Beispiele ist sehr positiv hervorzuheben und trägt den Grundcharakter von ursprünglich in Lehrkontexten entstandenen Materialien weiter. Inhaltlich zeichnet der Autor verschiedene Möglichkeiten »kurzer Wege« an der Kurie nach (117–136) und illustriert durch viele Beispiele von Prozessen plastisch die Kurie als Gerichtshof (z. B. 132). Erhellend ist hier wiederum die vergleichende Perspektive auf die zeitgenössischen englischen Verhältnisse. Die administrative Effizienz der Kurie wird überzeugend durch Nachweis von »Outsourcing« und standardisierter Erledigung von Routinesachen erklärt (136).

Eine Stärke des Buches im fünften Kapitel (137–185) ist die Vorstellung und das Aufzeigen der Bedeutung einzelner Quellengattungen, was bewusst das Forschungsinteresse zu ihrer Bearbeitung zu wecken bestrebt ist (z. B. 150–151). So wird etwa das Fehlen breit angelegter Studien zum Geschäftsgang in der Frühen Neuzeit als Desiderat gegenüber der gut erforschten Papstkanzlei des Mittelalters benannt (155). Es gelingt dem Autor diesbezüglich Kontinuitäten über das große Abendländische Schisma hinaus nachzuweisen (181).

Durch solche langfristigen Tendenzen erschließt das letzte Kapitel (186–195) in der Gesamtschau weitreichendes Potential der Diplomatik für die Erforschung des Papsttums insgesamt (193).

Die Transkriptionen im Anhang, auf die mittels Siglen im Text präzise verwiesen wird, unterstützen den Prozess des Nachvollzugs. Sie verbinden eine didaktische Aufbereitung (so in der Markierung und Benennung der einzelnen Urkundenteile) mit wissenschaftlicher Präzision, etwa in der Diskussion textlicher Varianz.2 Die Transkriptionsprinzipien hätten vielleicht an manchen Stellen noch ausführlicher sein können, da sich nicht alle typographischen Entscheidungen von Anfang an sofort zweifelsfrei nachvollziehen lassen.

Insgesamt herrscht hinsichtlich der Länge und Dichte der Kapitel ein ausgewogenes Verhältnis. Das Werk ist für Lernende als Lehrbuch und für Forschende gleichermaßen nützlich und anregend und erfüllt damit seinen Anspruch umfassend. Die konsequente Verfolgung einer These hebt es von sonstigen, eher thematisch orientierten Handbüchern ab und bietet einen roten Faden, dem der Leser folgen kann, der zugleich zum kritischen Nachvollzug der methodischen Verfahrensschritte angeregt wird. Damit ist es sowohl dem Anfänger als auch dem erfahrenen Fachwissenschaftler sehr zu empfehlen.

1 Vgl. dazu auch David L. d’Avray, The Fichtenau Paradigm and Hageneder̕s Question, in: Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl (Hg.), Innocenz III., Honorius III. und ihre Briefe. Die Edition der päpstlichen Kanzleiregister im Kontext der Geschichtsforschung, Göttingen 2023 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 79), 27–38.
2 Die Editoren des 15. Jahrgangs der Kanzleiregister Innocenz̕ III. lesen bei der in der Transkription S. 202 Anm. 42 problematisierten Kürzung ebenfalls postposita firmiter. Siehe Andrea Sommerlechner (Bearb.), gemeinsam mit Christoph Egger, Othmar Hageneder, Rainer Murauer, Martin Schaller und Herwig Weigl, Die Register Innocenz̕ III. 15. Pontifikatsjahr, 1212/1213. Texte und Indices (Publikationen des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, II/1/15), Wien 2022, Brief XV/4, 10, Z. 4.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Aaron Schwarz, Rezension von/compte rendu de: David L. d’Avray, The Power of Protocol. Diplomatics and the Dynamics of Papal Government, c. 400–c. 1600, Cambridge (Cambridge University Press) 2023, 300 p., ISBN 978-1-009-36111-8, DOI 10.1017/9781009361156, GBP 85,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104914