Auch im zweiten Band der Reihe Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung stellen sich die Mediävistinnen und Mediävisten der MGH der Geschichte ihrer Institution. Beschränkte sich der Fokus des ersten Bandes auf die Institutsgeschichte in der NS‑Zeit, stehen nun die Biographien und Forschungsleistungen jüdischer Wissenschaftler und einer Wissenschaftlerin der MGH auch ohne Bezug zur nationalsozialistischen Verfolgung im Zentrum. Das akademisch und öffentlich breit diskutierte Festjahr »2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« gab den Anlass, sich mit jenen teils in Vergessenheit geratenen Institutsangehörigen zu beschäftigen, die in einem Zeitraum zwischen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts lebten und wirkten.

So werden die Biographien von 28 Personen im Rahmen von 31 Artikeln vorgestellt. Dem voran gehen längere Texte von Ulrich Wyrwa und Matthias Berg. Wyrwa kontextualisiert eingangs die Lebensläufe der Mitarbeitenden durch einen Überblick über die Geschichte des deutschen Antisemitismus. Die bereits hinlänglich als Antisemiten erforschten und in vielen Schriften hierzu beschriebenen Charaktere von Johann Gottlieb Fichte über Richard Wagner bis zu Wilhelm Marr finden ebenso Erwähnung wie die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten. Eine ausführlichere Behandlung des antisemitischen Historikers Friedrich Rühs, der theoretische Vorarbeit für die Gründung der MGH geleistet hat, wäre wünschenswert gewesen. Rühs Überlegungen sind ein Widerspruch, der in auffallendem Gegensatz zu den vielfältigen Forschungsbeiträgen steht, welche die Monumenta ihren jüdischen Angehörigen zu verdanken haben. Dementgegen legt Wyrwa ausführlich dar, dass jüdische Geisteswissenschaftler überproportional stark in Nischendisziplinen sowie in außeruniversitären Forschungseinrichtungen vertreten waren, da universitäre Karrieren im Regelfall Nichtjuden vorbehalten blieben. Matthias Berg schildert anschließend den Umgang der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit ihren jüdischen Mitgliedern. Obwohl sich die BAdW auch in der NS-Zeit gewisse Freiräume sichern und in einzelnen Fällen jüdische Mitglieder durch allerlei Raffinessen halten konnte, wurden nicht zuletzt aufgrund des Drucks aus dem Reichswissenschaftsministerium viele jüdische Mitglieder verdrängt oder durch den vorauseilenden Gehorsam des Akademievorstands selbst zum »freiwilligen« Rücktritt genötigt.

Von den 28 Monumentisten sei an dieser Stelle nur auf drei eingegangen: Harry Bresslau, einziger ordinierter jüdischer Historiker in der Geschichte des Deutschen Reichs, Erika Sinauer, einzige jüdische Wissenschaftlerin der MGH vor 1945, sowie Ferdinand Güterbock, der offen Sympathien für den Faschismus hegte.

Über Harry Bresslaus Leben, seine Forschungsleistungen in der Diplomatik und im Bereich der erzählenden Texte des Mittelalters sowie seine Rolle in der Erforschung der Institutsgeschichte der MGH geben vier Artikel Auskunft. Annette Marquard-Mois führt beispielhaft aus, was Wyrwa zuvor im Allgemeinen dargelegt hat: die Widrigkeiten für einen jüdischen Wissenschaftler im Wilhelminischen Reich akademisch Fuß zu fassen. Bresslau verließ aber des Öfteren den akademischen Elfenbeinturm, um beispielsweise im Berliner Antisemitismusstreit, wo bislang vor allem Heinrich Graetz als jüdischer Antagonist Treitschkes ins Feld geführt wurde, zu intervenieren. Die beiden kürzeren Artikel zum Diplomatiker Bresslau (Theo Kölzer) und zu dessen Beiträgen zur Erforschung der erzählenden mittelalterlichen Quellen (Benedikt Marxreiter) lesen sich als sauber zusammengefasste Würdigungen eines beeindruckenden Forscherlebens. Den Reigen um Bresslau schließt Anne C. Nagel. Sie interpretiert seine monumentale 750‑seitige Schrift zur Geschichte der MGH und zeichnet nach, wie vorsichtig Bresslau eigene antisemitische Erfahrungen in seinem Kapitel zur Auseinandersetzung zwischen Georg Heinrich Pertz und Philipp Jaffé verhandelte.

In einem gänzlich anderen Kontext – und politischen Milieu – ist der Mediävist und Experte für das 12. Jahrhundert, Ferdinand Güterbock, zu lokalisieren. Nikola Becker rechnet den protestantisch getauften Privatgelehrten in ihrem aufgrund der dürftigen Quellenlage knapp gehaltenen Artikel ideologisch zum assimilierten jüdischen Bürgertum. Anhand von Güterbock wird ersichtlich, dass die Problematik, wer denn mit dem Adjektiv »jüdisch« bezeichnet werden sollte, in Einzelfällen eine komplizierte Gratwanderung darstellen kann. In den 1920er‑Jahren konnte sich Güterbock, der sich nachvollziehbarerweise als Nichtjude verstand, für Mussolini und dessen Weltanschauung begeistern und brachte dies in mehreren Schriften deutlich zum Ausdruck, wohingegen er 1937 als »Jude« in die Schweiz flüchten musste. Ganz im Sinne des Verbandes nationaldeutscher Juden war er bemüht, evident antisemitische Tendenzen beider Faschismen auszublenden. So starb Güterbock 1944 als geachteter Wissenschaftler eines natürlichen Todes – noch bis 1942 wurden seine wissenschaftlichen Arbeiten von seinem ehemaligen Kollegenkreis positiv hervorgehoben.

Ganz im Kontrast zu Güterbock steht die letzte hier zu erwähnende Persönlichkeit, erneut durch Annette Marquard-Mois vorgestellt. Diese legt einen lobenswert recherchierten Artikel zur Anwältin und Rechtshistorikerin Erika Sinauer vor. Ihre Ausführungen zeigen beispielhaft, wie ein jüdisches Einzelschicksal vom Zusammenspiel der Bemühungen des Kollegenkreises, der wechselhaften Rolle des »Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (MGH)« sowie der nationalsozialistischen Gesetzgebung und deren administrativer Umsetzung beeinflusst wurde. Allen Widrigkeiten und aussichtslos wirkenden Umständen zum Trotz entschied sich Erika Sinauer in Deutschland zu bleiben, bis eine Emigration nicht mehr möglich war. Sie wurde 1942 nach Auschwitz-Birkenau deportiert – wie in so vielen anderen Fällen lassen sich Zeit und Umstände ihrer Ermordung nicht mehr rekonstruieren.

Der Sammelband bietet gelungene Einblicke in den Anteil jüdischer Gelehrsamkeit im Dienste einer außeruniversitären Institution, die sich erst nach und nach zu diesem Beitrag bekannte.

FUSSNOTEN

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lukas Stadler, Rezension von/compte rendu de: Martina Hartmann, Annette Marquard-Mois, Maximilian Becker (Hg.), Zwischen Vaterlandsliebe und Ausgrenzung. Die jüdischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Monumenta Germaniae Historica, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2023, 560 S. (MGH Studien zur Geschichte der Mittelalterforschung, 2), ISBN 978-3-447-11975-7, EUR 98,00., in: Francia-Recensio 2024/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2024.2.104922